
Die Schweizer Bevölkerung wird immer älter. Damit wachsen die Herausforderungen für Gesellschaft und Gesundheitswesen: Wer pflegt uns im Alter? Und welche Wohn- und Versorgungsformen ermöglichen ein selbstbestimmtes Leben trotz Pflegebedarf?
Der Gedanke ans Altersheim löst bei vielen gemischte Gefühle aus. Entscheidend ist, unter welchen Bedingungen ein Umzug in eine solche Einrichtung überhaupt infrage kommt – und was es braucht, damit man sich dort wirklich zu Hause fühlen kann. Eine gute Betreuung, respektvoller Umgang und ein Umfeld, das individuelle Bedürfnisse ernst nimmt, sind zentrale Voraussetzungen dafür, dass ein Alters- und Pflegeheim mehr ist als nur ein Ort der Versorgung.
Ein Gedankenexperiment
Stellen Sie sich vor, Sie können nicht mehr unbetreut in ihrer Wohnung bleiben und entscheiden sich für ein Alters- und Pflegeheim. Bis dato haben Sie ein selbstbestimmtes Leben geführt. Sie haben während ihrer Pension einen neuen Lebensstil und neue Gewohnheiten entwickelt. Den Tagesablauf konnten Sie ganz nach Ihren Bedürfnissen gestalten. Vielleicht haben Sie immer bis kurz vor Mittag ausgeschlafen, dann ausgiebig gefrühstückt und haben sich dann gemütlich um die Körperpflege gekümmert. Oder Sie sind mit den ersten Sonnenstrahlen erwacht und ihre erste Handlung war der Gang zum Briefkasten, gefolgt von einem Kaffee und einer Zeitungslektüre. Vielleicht waren Sie schon zeitlebens ein Nachtmensch und konnten das in ihrer Pension endlich richtig ausleben. Der springende Punkt ist, dass Sie selbst bestimmen konnten, was, wie und wann Sie machen wollten.
Zahlen und Fakten
Das Bundesamt für Statistik zeigt einen deutlichen Anstieg an Rentner:innen in der Schweiz auf. 2015 lebten in der Schweiz 1,5 Millionen Rentner:innen. Für das Jahr 2045 rechnet das Bundesamt mit einer Anzahl von 2,7 Millionen. Laut Berechnungen wird sich die Anzahl der über 80-Jährigen verdoppeln. (Bundesamt für Statistik)
Leben nach vorgegebenem Takt
Die Gedankenreise geht weiter: Sie leben nun in einem Alters- und Pflegeheim. Der Tag beginnt früh – in vielen Einrichtungen startet der Frühdienst der Pflegenden um 7.00 Uhr. Das bedeutet, dass die morgendliche Pflege, wie Waschen und Ankleiden, oft früh erfolgt, gefolgt vom gemeinsamen Frühstück. Zum Wochenprogramm gehören unter anderem auch Beschäftigungsangebote wie der beliebte Lotto-Nachmittag. Spaziergänge oder persönliche Gespräche mit dem Pflegepersonal lassen sich nicht immer spontan umsetzen, da viele Mitarbeitende gleichzeitig auch administrative Aufgaben übernehmen und durch den Fachkräftemangel gefordert sind. Der Tagesablauf ist klar strukturiert – mit festgelegten Zeiten für Mahlzeiten, Pflege und Ruhe. Auch Besuche der Familie müssen häufig innerhalb bestimmter Zeitfenster stattfinden, was eine Herausforderung darstellen kann.
Die Vorstellung eines Heimeintritts kann Unbehagen auslösen – zu stark scheint der Kontrast zum gewohnten Zuhause. In einer Institution gelten andere Regeln, individuelle Gewohnheiten müssen sich dem Alltag der Einrichtung unterordnen, und das Gefühl von Selbstbestimmung droht verloren zu gehen.

Aktivierung im Garten. Foto: pflegimuri.
Das Konzept «Meine 24 Stunden»
Dass es nicht so sein muss, zeigt das «Meine 24 Stunden»-Konzept der pflegimuri. Dieses Konzept, das mir als stellvertretende Wohngruppenleiterin des Pflege- und Altersheims pflegimuri vertraut ist, möchte ich Ihnen hier gerne vorstellen.
In Muri im Kanton Aargau liegt, eingebettet in einem ehemaligen Kloster, die pflegimuri, ein Alters- und Pflegeheim. Der Slogan «achtsam anders» ist spürbar in den alten Mauern und auf allen Wohngruppen. Die pflegimuri möchte ihren Bewohner:innen nicht nur ein gutes Leben, sondern auch eine gute Pflege bieten. Die Bewohner:innen wünschen sich, dass die Mitarbeitenden präsent sind und ihnen ausreichend Zeit widmen. Sie möchten ihren Alltag aktiv mitgestalten und mitentscheiden. Auch im hohen Alter sehnen sich viele Menschen nach persönlicher Weiterentwicklung und einem höheren Mass an Privatsphäre. Die pflegimuri hat diese Bedürfnisse aufgenommen und daraufhin das Konzept «Meine 24 Stunden» entwickelt
Um den Bedürfnissen unserer Bewohner:innen noch besser gerecht zu werden, war ein Umdenken erforderlich. Die pflegimuri hat deshalb ihre Abläufe und Strukturen reflektiert und weiterentwickelt. Dabei wurden auch gewohnte Routinen und etablierte Arbeitsweisen überprüft. So konnte ein neues Konzept entstehen, das Schritt für Schritt in die Praxis umgesetzt wurde.
Seit August 2019 wird das Konzept «Meine 24 Stunden» auf allen zwölf Wohngruppen umgesetzt. Die neue Philosophie erstreckt sich nicht nur auf die Wohngruppen, sondern auf die gesamte pflegimuri. Auch Bereiche wie Hotellerie, Küche, Reinigung, Aktivierung und Administration sind aktiv in das Konzept eingebunden.
Was wurde verändert?
Zunächst wurden die Stationszimmer abgeschafft. Die schriftlichen Arbeiten finden nun direkt in der Wohnstube bei den Bewohner:innen statt. Die Dokumentation wurde auf das Wesentliche konzentriert, um mehr Zeit für die Betreuung der Bewohner:innen zu ermöglichen. Übergaben erfolgen an einem Stehtisch im Flur, was die Präsenz und Sichtbarkeit des Pflegepersonals erhöht. Die Medikamente werden von der Apotheke bereits in Blistern vorbereitet geliefert, was den Mitarbeitenden viel Zeit spart. Feste Arbeitspläne und Checklisten wurden abgeschafft. Beim monatlichen Treffen «Alles was Rechts esch» haben die Bewohner:innen die Möglichkeit, ihre Anliegen, Wünsche und Rückmeldungen direkt einzubringen – der Austausch soll lebendig und offen sein.
Die pflegimuri möchte die Bewohner:innen wahrnehmen, ihre Bedürfnisse erkennen und darauf eingehen. Insgesamt wurden zeitraubende Abläufe konsequent reduziert. Gleichzeitig ist das Aktivierungsangebot erweitert – auch an den Wochenenden. Die Bewohnenden sollen keine Schichtzeit spüren. Das Aktivierungsangebot wird ständig auf die Wünsche der Bewohner:innen angepasst. So wurde der Kurs «Digitale Medien» aufgestellt, welcher rege von den Bewohner:innen besucht wird. Hier erlernen sie auch den Umgang mit dem Smartphone. Zudem ist auch der Hausdienst ins Pflegeteam integriert worden und ist Teil der Betreuung.
Die Mitarbeitenden tragen Alltagskleidung, was zur Schaffung einer vertrauteren und natürlicheren Atmosphäre beiträgt. Die Zahl der freiwilligen Helfer:innen wurde verdoppelt – ein Engagement, das von den Bewohner:innen sehr positiv aufgenommen wird. Wir legen zudem grossen Wert darauf, die Selbstbestimmung der Bewohnenden zu wahren und zu fördern. Die Bewohner:innen können ausschlafen und erhalten abends bei Bedarf Unterstützung beim Duschen. Angehörige sind jederzeit willkommen. Die Mahlzeiten ähneln einem Hotelbuffet am Morgen und einem gemeinsamen Familientisch am Mittag und Abend – jeder isst, was ihm schmeckt und wo er sich wohlfühlt.
Welche Herausforderungen stellen sich?
Jedes Konzept hat Nachteile. Die grosse Herausforderung ist, die Balance zwischen Autonomie und Fürsorgepflicht zu finden. Der Alltag zeigt, dass die Autonomie zwar an oberster Stelle steht, es aber gewisse Grenzen gibt. Im Mittelpunkt stehen Rechte und Pflichten. Die Bewohner:innen geniessen viele Freiheiten, tragen aber auch Verantwortung. So dürfen sie etwa nachts wach bleiben, sollen dabei jedoch die Nachtruhe respektieren
Gerät das Gleichgewicht ins Wanken, wird das Gespräch gesucht – mit dem Ziel, gemeinsam einen Kompromiss zu finden. Dieser Dialog ist Teil eines kontinuierlichen Prozesses zwischen Pflegenden und Bewohnenden.
Pflegimuri setzt das Konzept auch in Wohngruppen für Menschen mit Demenz, psychischen Erkrankungen oder Suchterkrankungen um. Dort gelten spezielle Absprachen – etwa zum Alkoholkonsum, der nur im Zimmer oder in neutralen Gefässen erlaubt ist, um abstinente Bewohner:innen zu schützen. Es kommt immer wieder zu gesundheitsschädigendem Verhalten, wie etwa Medikamentenverweigerung. In Gesprächen werden die Konsequenzen erörtert und gemeinsam mit dem ärztlichen Dienst nach Alternativen gesucht. Die Erfahrung zeigt, dass durch Vertrauen, Empathie und offenen Austausch oft tragbare Kompromisse gefunden werden. Wir möchten jeden Menschen als Individuum respektieren.
Am Ende der Gedankenreise
Sie sind in einem Alters- und Pflegeheim angekommen, in dem Ihre Selbstbestimmung im Mittelpunkt steht. Sie dürfen ausschlafen, wenn Sie möchten, sogar bis mittags. Die Pflegenden nehmen sich Zeit für Sie, ohne Hektik. Das vielfältige Aktivitätsangebot macht die Auswahl schwer. Ihre Angehörigen sind jederzeit willkommen. Ihre Meinung zählt: Sie können mitbestimmen und Ihre Wünsche offen einbringen. Es ist vielleicht nicht Ihr eigenes Zuhause – aber es fühlt sich beinahe so an. Könnten Sie sich vorstellen, in einem Alters- und Pflegeheim mit dieser Haltung und diesen Werten zu leben?
Ausblick
«Damit alle Menschen in Würde altern können, braucht die Betreuung einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert. Auch in den eigenen vier Wänden darf sie nicht Privatsache bleiben, um die sich die Angehörigen kümmern müssen. Betreuung sollte als Bestandteil des Service Public im Sozial- und Gesundheitswesen verstanden und in den Organisationen verankert werden. Der Handlungsbedarf ist benannt. Nun braucht es den vertieften Dialog zwischen Fachwelt, Politik, Wissenschaft und Bildung.» (pss_Recherchebericht)
*Dieser Beitrag entstand im Kurs «Schreibkompetenz» während des Studiums zum Bachelor of Science FH in Nursing an der Careum Hochschule Gesundheit. Die Teilnehmenden wählten ein Thema, mit dem sie in der Regel in ihrem Berufsalltag in Berührung kommen. Die besten Beiträge wurden ausgewählt und für den Blog überarbeitet
Quellen:
Gute Betreuung im Alter. Perspektiven für die Schweiz. (2018). Abgerufen 2. Mai 2024, von: https://www.gutaltern.ch/.
Diskutieren Sie mit!
- Auf welche Gewohnheit würden Sie nicht verzichten wollen als Bewohnerin oder Bewohner eines Alters- und Pflegeheims?
- Könnten Sie sich aktuell vorstellen, in einem Alters- und Pflegeheim oder in der pflegimuri zu wohnen?
- Was glauben Sie, müsste sich schweizweit verändern, damit Menschen in allen Alters- und Pflegeheimen in Würde altern können?
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