
Wenn hochbetagte Menschen auf einer Intensivstation behandelt werden, steht das Behandlungsteam oft vor einer schwierigen Frage: Kann die betagte Person angesichts ihres Alters die kritische Krankheitssituation überstehen?
Fremde Menschen in einheitlicher Kleidung, Lärm, grelles Licht, unbekannte Geräte, Schmerzen, eingeschränkte Mobilität und eine getrübte Wahrnehmung: Das prägt oft den ersten Eindruck von Patient:innen auf einer Intensivstation. Verwirrt stellen sie sich Fragen: Wo bin ich? Was ist passiert?
Kein Zuckerschlecken auf der Intensivstation
Die Wahrnehmung von Patient:innen auf einer Intensivstation ist zu Beginn häufig getrübt. Dabei kann es sein, dass sie bereits Tage oder Wochen auf dieser Station verbracht haben, ohne es bewusst wahrzunehmen. Sei es im Koma, unter Sedierung oder im Delir. Die anschliessende Rehabilitation ist kräftezehrend. Manchmal leider auch mit Rückschlägen oder Komplikationen verbunden. Selbst für jüngere Patient: innen ist eine Rehabilitation nach der Intensivstation kein Zuckerschlecken.
Wie sieht es aus bei Patient: innen, die bereits über 80 Jahre alt sind? Der demografische Trend zeigt, dass es immer mehr ältere Patient: innen auf den Intensivstationen gibt (Schmid et al., 2021). Bei der Versorgung hochbetagter Patientinnen und Patienten stellt sich dem behandelnden Team oft die Frage, ob die Person eine kritische Krankheitssituation aufgrund ihres Alters bewältigen kann. Wie sieht die Lebensqualität dieser Patient: innen nach dem Aufenthalt auf einer Intensivstation aus? Werden sie jemals in ihr gewohntes Leben zurückkehren können? Werden sie danach auf kontinuierliche Unterstützung oder sogar auf ständige Pflege angewiesen sein?
Intensivmedizin im Alter: Neue Erkenntnisse, neue Chancen
Noch vor Jahrzehnten wurde bei der Aufnahme betagter Patient: innen auf die Intensivstation sehr zögerlich agiert. Ein Aufenthalt auf der Intensivstation ist mit erheblichen Kosten und begrenzten Ressourcen verbunden. Wenn Unsicherheiten über den Krankheitsverlauf und die zu erwartende Lebensqualität nach dem Intensivaufenthalt bestehen, führt dies häufig zu erheblichen Bedenken. Inzwischen ist die Medizin jedoch weit fortgeschritten. Intensivmedizinische Therapien wurden verbessert und weiterentwickelt. Neueste Forschungsergebnisse stellen die zuvor geäusserten Zweifel infrage. Somit nimmt der Anteil der über 80-jährigen Patient:innen stetig zu. (Becker et al., 2015; Michels et al., 2020).
Mit dem demografischen Wandel wird der Anteil betagter Patienten: innen auf Intensivstationen zunehmen. Heutzutage machen sie bereits ca. 30 % der Patient: innen aus. Statistisch gesehen wird hohes Alter mit reduziertem funktionellem Status in Verbindung gebracht. Dieser beschreibt die Fähigkeit einer Person, ihre täglichen Aufgaben bewältigen zu können und ihre übliche Rolle auszuführen. Aber auch selbstständig für ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen zu sorgen und diese erhalten zu können (Stengelet al., 2010, S. 73).
Dies trifft jedoch nicht immer zu. Für eine Prognose der Therapie sollte der Allgemeinzustand der Patient: innen VOR der kritischen Erkrankung betrachtet werden (Schmid et al., 2021).
Gebrechlichkeit
Wird als ein Syndrom des höheren Lebensalters beschrieben. In wissenschaftlichen Untersuchungen wird es meist als „Frailty“ bezeichnet. Das Syndrom beschreibt einen Zustand reduzierter körperlicher und mentaler Belastbarkeit. Betroffene sind anfälliger für Stressfaktoren wie Krankheiten, Stürze oder Veränderungen im sozialen Umfeld und haben ein erhöhtes Risiko, ihre Selbstständigkeit zu verlieren (Berresheim, 2021).
Das Alter – kein verlässlicher Indikator für den Therapieerfolg
Untersuchungen bestätigen, dass das kalendarische Alter nicht das ausschlaggebende Kriterium für den Erfolg oder Misserfolg einer intensivmedizinischen Therapie ist. Vielmehr scheinen folgende Einflussfaktoren eine viel wichtigere Rolle für eine mögliche Vorhersage einer Therapie zu spielen (Michels et al., 2020; Schmid et al., 2021).
- Funktioneller Status
- Gebrechlichkeit
- Delir
- Ernährungszustand
- Vorliegen von drei oder mehr chronischen Erkrankungen
- Dauerhafte Einnahme von fünf oder mehr Medikamenten
- Prognose der Grunderkrankung
Da sich unsere Organe mit dem Alter verändern, sind ältere Menschen anfälliger für äussere Belastungen und akute Erkrankungen. Gebrechliche Patient:innen auf der Intensivstation haben ein erhöhtes Risiko für langfristige funktionelle Einschränkungen. Diese können eine Aufnahme in ein Pflegeheim notwendig machen (Michels et al., 2020; Schmid et al., 2021).
Nun könnte man annehmen, dass Menschen mit zunehmendem Alter gebrechlicher werden. Das stimmt jedoch nicht. Alter allein ist nicht ausschlaggebend für die Gebrechlichkeit eines Menschen. Denn eine chronologische Entwicklung von Gebrechlichkeit ist verschieden und sehr individuell (Schmid et al. 2021).
Folgende Faktoren spielen eine wichtige Rolle dabei, wie wir altern (Schünke, 2024):
- Genetische Veranlagung
- Umwelteinflüsse
- Kulturelle Faktoren
- Bildung
- Partnerschaft
- Lebensstil und Ernährung
Ein Delir ist die häufigste psychiatrische Erkrankung auf einer Intensivstation. Meist verzögert sich die Genesung und die Verweildauer bei Patient:innen mit einem Delir. Untersuchungen zeigen, dass die Sterblichkeit auf das 2-3-fache steigt bei Patient:innen mit einem Delir.
Intensivstation und danach?
Studien belegen, dass ältere Patient:innen nach einem Aufenthalt auf einer Intensivstation kaum Einschränkungen bei der Selbstversorgung aufweisen. Sie berichten über eine ähnliche Lebensqualität wie Personen gleichen Geschlechts und Alters. Sie beurteilen ihre körperliche Gesundheit, ihre Selbstständigkeit und ihre soziale Einbindung etwas schlechter als der Rest der Bevölkerung.
Leider gibt es nur wenige Untersuchungen zu älteren Menschen, die eine Intensivstation überlebt haben. Die Ergebnisse sind mit Vorsicht zu geniessen, da die Auswahl der Befragten noch zu klein ist, um eine entsprechende Aussage zur Lebensqualität zu machen (Tabah et al., 2010).
Fazit
Studien belegen, dass ältere Patient:innen häufiger funktionelle Einschränkungen aufweisen als jüngere. Diese Einschränkungen sind jedoch meist vorübergehend. Die Fähigkeit zur Selbstversorgung kann wieder das Niveau erreichen, das vor dem Aufenthalt auf der Intensivstation vorhanden war. Bei älteren Patient: innen braucht es lediglich mehr Zeit (Michels et al., 2020). Die Lebensqualität älterer Patientinnen und Patienten scheint im Vergleich mit der Allgemeinbevölkerung gleichbleibend oder etwas gemindert zu sein. Im Falle einer erneuten schweren Erkrankung möchten sie wieder auf einer Intensivstation behandelt werden (Tabah et al., 2010). Zu dieser Patientengruppe ist weitere Forschung erforderlich.
Es herrscht nach wie vor ein Mangel an Informationen über Prognosen und Ergebnisse. Leider werden ältere Patient:innen in Studien häufig nicht berücksichtigt. Wenn überhaupt, dann nur ein kleiner Teil von ihnen. Somit fehlen Daten für Langzeitergebnisse (Becker et al., 2015). Es überrascht, dass das Alter bei der Vorhersage des Therapieerfolgs eine geringere Rolle spielt als erwartet. Unser Alterungsprozess ist sehr individuell und abhängig von vielen Faktoren. Einige können aktiv beeinflusst werden.
Unsere Gesellschaft befindet sich im Wandel, viele gesundheitsbezogene Themen werden für die meisten Menschen relevant. Somit besteht trotz der immer weiter alternden Gesellschaft die Hoffnung, dass betagte Patient:innen auch nach der Intensivstation ihr Leben geniessen und eine gute Lebensqualität haben können. Auch für das Behandlungsteam ist es motivierend zu wissen, dass die Patient: innen eine Überlebenschance haben und je nach Umständen nicht zwangsläufig ihr ganzes weiteres Leben lang pflegebedürftig bleiben müssen.
*Dieser Beitrag entstand im Kurs «Schreibkompetenz» während des Studiums zum Bachelor of Science FH in Nursing an der Careum Hochschule Gesundheit. Die Teilnehmenden wählten ein Thema, mit dem sie in der Regel in ihrem Berufsalltag in Berührung kommen. Die besten Beiträge wurden ausgewählt und für den Blog überarbeitet.
Quellen
Becker, S., Müller, J., de Heer, G., Braune, S., Fuhrmann, V., & Kluge, S. (2015). Clinical characteristics and outcome of very elderly patients ≥90 years in intensive care: A retrospective observational study. Annuals of Intensive Care, 5(1), 53.
Berresheim, F. (2021, Januar 14). Gebrechlichkeit: Ursachen, Symptome und Behandlung – Pflegebox. Pflegebox.de.
Michels, G., Sieber, C. C., Marx, G., Roller- Wirnsberger, R., Joannidis, M., Müller- Werdan, U., Müllges, W., Gahn, G., Pfister, R., Thürmann, P. A., Wirth, R., Fresenborg, J., Kuntz, L., Simon, S. T., Janssens, U., &
Heppner, H. J. (2020). Geriatrische Intensivmedizin. Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin, 115(5), 393–411.
Schmid, S., Heissner, K., Schlosser, S., & Müller-Schilling, M. (2021). Der geriatrische Patient auf der Intensivstation. Der Gastroenterologe, 16(5), 361–368.
Schünke, M. (2024). Der Körper des Menschen: Einführung in Bau und Funktion (19. aktualisierte Auflage). Thieme.
Stengel, D., Bhandari, M., & Hanson, B. (Hrsg.). (2010). Statistik und Aufbereitung klinischer Daten (B. Jung, Übers.). Georg Thieme Verlag.
Tabah, A., Philippart, F., Timsit, J. F., Willems, V., Français, A., Leplège, A., Carlet, J., Bruel, C., Misset, B., & Garrouste- Orgeas, M. (2010). Quality of life in patients aged 80 or over after ICU discharge. Critical Care, 14(1), R2.
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