übergewichtige frau im spital

Stigmatisierung von adipösen Patient:innen im Spital

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Übergewicht kann im Alltag für Betroffene belastend sein. Das Gewicht steht immer im Mittelpunkt. Sogar von Fachpersonen wird man als übergewichtige Person oftmals nicht ernst genommen. Was steckt dahinter?

Seit drei Tagen sind Sie wegen einer Knieoperation im Spital. Nebst den Knieschmerzen haben Sie seit Kurzem auch noch Rückenbeschwerden. Auf der täglichen Visite beschliessen Sie, Ihre Beschwerden mit dem Ärzte- und Pflegeteam zu teilen. Das Knie steht im Mittelpunkt. Den Rückenbeschwerden wird kaum Beachtung geschenkt. Alle verlassen das Zimmer. Die Türe wird geschlossen. Sie realisieren, wie das Gespräch vor dem Zimmer weiter geht. Man spricht über Ihre überflüssigen Kilos und dass Sie anscheinend zu faul sind. Sie fühlen sich schlecht, nicht ernst genommen. Es ist Ihnen unangenehm.

Ist es wirklich so, dass übergewichtige Menschen von medizinischen Fachpersonen zu wenig ernst genommen werden? Haben sie tatsächlich einen Nachteil in der Gesundheitsversorgung? Oder ist es nur eine verzerrte Wahrnehmung der Betroffenen?

Wie relevant ist das Thema?

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) befasst sich ebenfalls mit der Thematik «Übergewicht und Adipositas». Gemäss BAG sind etwa 42 % der erwachsenen Schweizer übergewichtig und rund 11 % davon sind adipös (BAG)

Und was soll nun daran so schlimm sein?

Es gibt verschiedene Aspekte, die aufzeigen, dass ein Leben mit Übergewicht nicht gesund ist. Zusätzliche Kilos bergen ein Risiko für unterschiedliche Krankheiten, wie zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes Typ 2 und diverse Krebsarten. Auch zusätzliche Kosten für die Gesellschaft können nicht ignoriert werden (BAG). Im Jahr 2012 wurden die durch Übergewicht und Adipositas entstandenen Jahreskosten auf rund 8 Milliarden Franken berechnet (BAG).

mann mit übergewicht im spital

Adipöse Menschen werden oft stigmatisiert. Bild: depositphotos.

Die sollen doch weniger essen und sich mehr bewegen!

Genau solche Aussagen bekommen übergewichtige und adipöse Menschen zu hören. Seit 2008 gilt Adipositas als eine chronische Erkrankung (BAG). Mit den Vorurteilen gegenüber übergewichtigen und adipösen Menschen befasst sich auch die Allianz Adipositas Schweiz. Aus ihrer Sicht besteht in der Schweizer Gesellschaft ein grosses Wissensdefizit bezüglich Adipositas. Bewegungsmangel und eine ungeeignete Ernährung sind zwar mögliche Ursachen für die überzähligen Kilos, dennoch gibt es etliche weitere Faktoren, welche diese Volkskrankheit begünstigen.

Trotz der wissenschaftlichen Erkenntnisse über mögliche Ursachen von Übergewicht und Adipositas werden Betroffenen oft nicht ernst genommen. Sogar in Spitälern oder in Arztpraxen ist dies der Fall. Die vorhandenen Probleme werden schnell auf das Übergewicht zurückgeführt. Für die Betroffenen bedeutet die Stigmatisierung oft einen Teufelskreis, aus dem sie allein nur schwer ausbrechen können. Stattdessen werden sie von Essstörungen begleitet, meiden körperliche Aktivität und nehmen noch mehr zu. Das verringerte Selbstwertgefühl und das negative Körperbild sind für eine Gewichtsreduktion auch nicht förderlich.


Vorurteile medizinischer Fachpersonen?

Ein Artikel aus dem amerikanischen Journal für Krankenpfleger beschreibt diese Thematik. Spannende Ergebnisse aus Studien und Umfragen wurden dort zusammengefasst. Eine Studie hat ergeben, dass Patient:innen diese Voreingenommenheit vom Ärzte- und Pflegeteam wahrnehmen, teilweise auch unangebrachte Bemerkungen zu ihrer Fettleibigkeit erhielten. Eine Umfrage von ca. 250 Ärzt:innen zeigt, dass rund 40 % der Befragten negativ gegenüber übergewichtigen Patient:innen eingestellt sind (Fruh et al., 2016).

Auch eine amerikanische Studie aus dem Jahr 2019 kam zum Ergebnis, dass Studierende aus der Pflege zwar der Meinung sind, dass sie keine Vorurteile gegenüber adipösen Menschen hätten, bei rund 65 % jedoch eine Stigmatisierung vorlag. Bei dieser sogenannten Gewichtsverzerrung ging es vor allem um falsche negative Annahmen zu charakterlichen Eigenschaften bei fettleibigen Personen. Die Notwendigkeit einer Sensibilisierung des Pflegepersonals für dieses Thema wurde erkannt. (George et al., 2019).

Was lernen wir daraus?

Manche Gedanken können wir wahrscheinlich nicht kontrollieren. Aber wir können lernen, sie zu reflektieren. Man sollte immer daran denken, dass hinter jedem Patienten und jeder Patientin ein Mensch mit Gefühlen steht, der vielleicht schon einen Rucksack mit negativen Erfahrungen mitbringt. Schräge Blicke oder auch nicht bös gemeinte Bemerkungen könnten alte Wunden aufreissen und das Verhalten der Patient:innen beeinflussen. Das Wissen um die Komplexität von Übergewicht und Adipositas scheint mir ein guter Anfang zu sein, um sich der Thematik bewusst zu werden und vielleicht etwas an der eigenen Einstellung zu ändern.



*Dieser Beitrag entstand im Kurs «Schreibkompetenz» während des Studiums zum Bachelor of Science FH in Nursing an der Careum Hochschule Gesundheit. Die Teilnehmenden wählten ein Thema, mit dem sie in der Regel in ihrem Berufsalltag in Berührung kommen. Die besten Beiträge wurden ausgewählt und für den Blog überarbeitet.


Diskutieren Sie mit!


• Hatten Sie schon einmal Vorurteile gegenüber übergewichtigen Patient:innen?

• Haben Sie einmal mitbekommen, dass Patient:innen vom medizinischen Personal stigmatisiert wurden?

• Waren Sie selber schon einmal in der Situation, wo Sie das Gefühl hatten, wegen Ihres Gewichts stigmatisiert zu werden?

Literatur

Allianz Adipositas Schweiz (2023). Stigmatisierung—Allianz Adipositas Schweiz. https://www.allianzadipositasschweiz.ch/fuer-fachpersonen/stigmatisierung

BAG, Bundesamt für Gesundheit (ohne Datum). Kosten von Übergewicht und Adipositas.

BAG (ohne Datum). Übergewicht und Adipositas.

Fruh, S. M., Nadglowski, J., Hall, H. R., Davis, S. L., Crook, E. D., & Zlomke, K. (2016). Obesity Stigma and Bias. The Journal for Nurse Practitioners, 12(7), 425–432. https://doi.org/10.1016/j.nurpra.2016.05.013

George, T. P., DeCristofaro, C., & Murphy, P. F. (2019). Unconscious Weight Bias Among Nursing Students: A Descriptive Study. Healthcare, 7(3), Article 3. https://doi.org/10.3390/healthcare7030106

WHO, Obesity and overweight. (2023).

Kommentare

  • Jörg Haslbeck

    18.04.2024

    Vielen Dank für diese Veröffentlichung! Das Thema "Gewicht" ist per se ein sensibles, weswegen Begriffe wie Gewichtsmanagement versuchen, weder diejenigen auszuschliessen, die zu wenig wiegen und damit ein Problem haben, noch diejenigen einseitig zu adressieren, die vielleicht etwas mehr auf die Waage bringen. Beide Personengruppen können u. U. darunter leiden, wie es um ihr Körpergewicht steht. Als Gesundheitsfachperson hier offen zu sein, sich eigener Vorannahmen bewusst zu werden, das zu reflektieren und ggf. sogar zusammen mit den Betroffenen zu thematisieren, halte ich für essentiell. Danke für das Teilen der Gedanken und Fakten, sehr wertvoll!

    • Laura Camenisch

      30.04.2024

      Herzlichen Dank für diesen wertvollen Kommentar.
      Ich finde den Begriff "Gewichtsmanagement" sehr gut gewählt. Es ist generell wichtig, die Wortwahl in der Kommunikation sorgfältig zu bedenken.
      Das Schaffen eines Bewusstseins für eine Thematik ist stets ein guter Ausgangspunkt für jegliche Art von Veränderung.

  • Silvia Anneler

    18.04.2024

    Vor 13 Jahren habe ich mich für eine Magenbypassoperation entschieden. Ich kenne also beide Seiten. Als Pflegefachfrau habe ich mich schon oft für meine Berufskolleginnen und Berufskollegen geschämt. Heute, als Normalgewichtige, spreche ich Stigmatisierungen direkt an.
    Aus eigener Erfahrung weiss ich, wie sich Stigmatisierung anfühlt. 1 Tag nach meiner OP, hat eine Pflegende mein Gewicht durch den ganzen Raum gerufen, obwohl ich sie vorgängig darum gebeten habe, es nicht zu tun. Eine Kollegin äusserte während der Kaffeepause, dass ich auch hätte "weniger fressen" und mich mehr bewegen können, statt der Krankenkasse auf der Tasche zu liegen. Oder das Thema Berufskleidung; man könnte denken, die Mode höre bei Konfektionsgrösse 46 auf - oder anders formuliert: Wer nicht in die Grösse passt, darf bei uns nicht pflegen ....

    • Laura Camenisch

      03.05.2024

      Herzlichen Dank für das Teilen Ihrer eigenen Erfahrungen.
      Dies unterstreicht, dass die angesprochene Problematik auch in unserem Umfeld präsent ist. Ich denke, dass sich viele Menschen und sogar Unternehmen der Stigmatisierung nicht vollständig bewusst sind. Es ist beeindruckend und lobenswert, dass Sie diese Stigmatisierung ansprechen und dadurch als Vorbild für andere dienen können.
      Vielen Dank dafür.