Selbstbestimmt, aber sicher!?
Blog
Selbstbestimmung ist ein individuelles Bedürfnis, das wir für uns selbst gerne in Anspruch nehmen. Auch im Pflegealltag begegnet uns die Frage nach der Selbstbestimmung täglich. Geben wir diesem Thema den nötigen Raum und Respekt, den es verdient?
Sei es im Spitalalltag, in Pflegeinstitutionen, in der ambulanten pflegerischen Versorgung oder in weiteren Einrichtungen: Überall sind Patientinnen und Patienten auf mehr oder weniger Unterstützung und Betreuung angewiesen. Wie begegnen wir dabei dem Thema «Selbstbestimmung»? Stören uns Patienten, die alles ganz genau wissen möchten? Oder sehen wir sie als mündige Menschen, die ein gezieltes Selbstmanagement betreiben? Nehmen wir als Pflegefachpersonen die Aufklärungs- und Informationspflicht genügend wahr, damit Patientinnen und Patienten für ihr eigenes Wohl entscheiden können? Bei meiner Arbeit in der öffentlichen Spitex hat sich mir dazu ein Satz aus dem Leitbild ganz besonders eingeprägt:
Wir ermöglichen hilfsbedürftigen Menschen im Knonaueramt eine selbstbestimmte bestmögliche Lebensqualität im vertrauten Umfeld.
Die nachfolgenden Ausführungen richten sich nach den Grundsätzen der Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). Diverse ihrer Publikationen tangieren oder behandeln das Thema Selbstbestimmung. Die Thematik ist eng verknüpft mit dem geltenden Recht in Bezug auf Urteilsfähigkeit und dem Kinder- und Erwachsenenschutzgesetz.
Definition von Selbstbestimmung
Die Definition der Selbstbestimmung basiert auf der Selbstbestimmungstheorie von Richard M. Ryan und Edward L. Deci. Sie gehen davon aus, dass Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit als Grundbedürfnisse unseres Wohlergehens betrachtet werden können. Werden diese Bedürfnisse nicht oder nur ungenügend erfüllt oder sogar fremdbestimmt, kann dies zu erlebter Frustration mit möglichen psychischen und physischen Auswirkungen führen. (Deci & Ryan, 2008)
Selbstbestimmung als Motivationsspritze
Das Bedürfnis nach Autonomie und Kompetenz kann durchaus Antrieb geben, mehr für seine eigene Gesundheit und einen gesünderen Lebensstil zu unternehmen. Ein gutes Selbstmanagement bei chronischen Krankheiten fördert eigene Problemlösungsstrategien und führt dadurch zu mehr Unabhängigkeit.
Patientinnen und Patienten der Spitex betonen regelmässig, ihre Selbstbestimmung möglichst lange erhalten zu wollen und kämpfen für ihre Unabhängigkeit. Dabei steht vor allem der Wunsch «zu Hause wohnen zu bleiben» im Vordergrund. Betroffene bauen sich dazu teilweise ein ganzes Netzwerk an Hilfspersonen auf und erhalten mit Willen und Kreativität ihre Ressourcen. Anderen wiederum ist selbst das zu viel und sie fühlen sich fremdbestimmt und eingeschränkt in ihrem Alltag. Entsprechend reduzieren sie die Hilfe auf das Allernötigste.
Grenzen der Selbstbestimmung
Gerade in der Spitex-Arbeit berichten Mitarbeitende immer wieder von psychisch belastenden Situationen. Häufig handelt es sich um Pflegesituationen, in denen sie die Gesundheit von Patientinnen und Patienten gefährdet sehen. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Oftmals sind demenzielle Entwicklungen oder ausgeprägte Einschränkungen in der Mobilität der Grund.
Trotz der hohen psychischen Belastung für Mitarbeitende sind gesetzliche Grundlagen massgebend für alle weiteren Schritte. Solange eine Person urteilsfähig ist, muss ihre Selbstbestimmung respektiert werden. Mit ihrer Zustimmung wird ein auf sie abgestimmtes Unterstützungsmanagement aufgebaut, das nach Möglichkeit auf bestehende familiale Strukturen zurückgreift. Daraus resultieren die unterschiedlichsten Lösungen. Oftmals können so angespannte Situation über längere Zeit entschärft werden.
In der ambulanten Pflege trifft man immer wieder auf Menschen, die Mühe haben, sich selbst zu versorgen. Es gelingt ihnen nicht mehr, sich ausreichend um ihr Wohlergehen zu kümmern. Liegt wegen einer Urteilsunfähigkeit eine klare Selbstgefährdung vor, so besteht gemäss dem Zivilgesetzbuch Meldepflicht. Auch die Spitexdienste kommen in solchen Ausnahmesituationen ihrer Meldepflicht nach. Dabei müssen sie sich an unterschiedliche kantonale Regelungen halten, um die berufliche Schweigepflicht nicht zu verletzen. Diese Massnahme ist aber als Notlösung zu verstehen.
Eine Einschränkung der Urteilsfähigkeit kann jede Person treffen. Um auf solche Situationen vorbereitet zu sein, ist es wichtig, sich frühzeitig mit Angehörigen auszutauschen und persönliche Wünsche und Vorstellungen anzubringen. Mit einem Vorsorgeauftrag und einer Patientenverfügung kann der Selbstbestimmung zusätzlich Nachdruck verliehen werden.
Pflege mit Fingerspitzengefühl
Wie können Pflegefachpersonen auf die Selbstbestimmung ihrer Patientinnen und Patienten Rücksicht nehmen?
Ein Beispiel
Immer wieder begegnen wir Menschen mit einer demenziellen Erkrankung. Zu Beginn der pflegerischen Beziehung kennen wir sie kaum. Allenfalls können Angehörige Auskunft über Gewohnheiten und Rituale von Patienten geben. Es ist wichtig, dass gerade professionell Pflegende sich für diese Informationen interessieren und sie in der Pflege berücksichtigen. Dabei kann es sich zum Beispiel um Gewohnheiten in der Körperpflege handeln, um Ernährung oder um Schlafrituale. Je mehr wir auf solche individuellen Bedürfnisse eingehen und sie mit unserer Pflege wertschätzen, umso besser können wir allfälligen Widerstand abbauen. Dabei ist es wichtig, als Team zu agieren und die Kontinuität zu ermöglichen.
Empfehlenswerte Literatur dazu:
DEMENZ der personen-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen von Tom Kitwood (Kitwood, Müller-Hergl, Güther, 2019)
Genauso bedeutend ist die Zusammenarbeit mit pflegenden Angehörigen. Ihnen ist unsere volle Aufmerksamkeit zu schenken. Gerade in häuslichen Pflegesituationen sind sie massgebend an der Pflege beteiligt und emotional eingebunden. Sie vertreten aus Liebe, Dankbarkeit oder manchmal auch aus Pflichtgefühl die Interessen ihrer Nächsten und investieren sehr viel Zeit für deren Wohlergehen.
Das Thema Selbstbestimmung ist sehr vielfältig. Es ist nicht nur ein individuelles Bedürfnis. Tagtäglich berücksichtigen interprofessionelle Teams in sämtlichen Bereichen des Pflegealltags die Bedürfnisse und Anliegen ihrer Patienten und zollen diesem Thema den nötigen Respekt.
*Dieser Beitrag entstand im Kurs «Schreibkompetenz» während des Studiums zum Bachelor of Science FH in Nursing der Careum Hochschule Gesundheit. Die Teilnehmenden wählten ein Thema, mit dem sie in der Regel in ihrem Berufsalltag in Berührung kommen. Die besten Beiträge wurden ausgewählt und für den Blog überarbeitet.
Literatur
Deci, E. L., & Ryan, R. M. (2008). Self-determination theory: A macrotheory of human motivation, development, and health. Canadian Psychology/Psychologie Canadienne, 49(3), 182–185. Link
Kitwood, T.M., Müller-Hergl, Ch., Güter, H. (2019). Demenz: der personen-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern: Hogrefe Verlag. Link
Konferenz für Kindes-und Erwachsenenschutz. (2019). Melderechte und Meldepflichten an die KESB. Zugriff am 10.3.2019. PDF
Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften. (2019). Urteilsfähigkeit in der medizinischen Praxis. Zugriff am 10.3.2019. Link
Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften. (2018). Patientenverfügungen. Zugriff am 10.3.2019. Link
Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften. (2005). Recht der Patientinnen und Patienten auf Selbstbestimmung. Zugriff am 10.3.2019. PDF
Schweizerische Eidgenossenschaft. (2008). Schweizerisches Zivilgesetzbuch (Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht). Zugriff am 9.6.2019. Link
Spitex Knonaueramt. (2019) Unser Leitbild. Zugriff am 10.3.2019. Link
Diskutieren Sie mit!
- Welche Erfahrungen machen Sie mit Selbstbestimmung in Ihrem Pflegealltag?
- Wo sehen Sie Grenzen der Selbstbestimmung?
- Welche Tipps und Tricks kennen und nutzen Sie, um die Selbstbestimmung Ihrer Patientinnen und Patienten zu stärken?
Kommentare