Notfallgebühr: Ist der Notfall noch zu retten?
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Chronisch überlastete Notfallstationen sind ein Problem in unserem Gesundheitswesen. Die Sozial- und Gesundheitskommission des Nationalrates (SGK-N) diskutiert zurzeit Massnahmen zur Entlastung der Notfallstationen. Ihr Vorschlag: Patient:innen für Bagatellfälle zur Kasse zu bitten. Kann das funktionieren?
Fachpersonen aus der Gesundheitswelt kritisieren den Vorschlag der Kommission scharf. Sie meinen, dass die wesentlichen Gründe für die Überlastung der Notfallstationen nicht bei den Patient:innen liegen. Laut Fachleuten müssen Lösungen an anderer Stelle gesucht werden.
Das Problem und dessen fragliche Lösung
Die Notfallstationen in der Schweiz sind seit Langem überlastet. Die Schweizerische Gesellschaft für Notfall- und Rettungsmedizin (SGNOR) informierte am 11. Januar 2023 in einem offenen Brief an die Verantwortlichen im Gesundheitswesen über diese stark zunehmende Überlastung. Ich arbeite selber auf einer Notfallstation als Experte für Notfallpflege und kann diese Überlastung täglich erleben. Die Versorgungsqualität hat nach meinem Empfinden seit der COVID-19-Pandemie noch stärker abgenommen. Die Zahl der Patient:innen im Notfall steigt von Jahr zu Jahr. Ein Ende ist nicht in Sicht. Als Notfallpfleger frage ich mich, ob diese Problematik von der Politik erkannt wurde und ob Massnahmen ergriffen werden.
Es stimmt mich positiv, zu sehen, dass die SGK-N über Massnahmen diskutiert, welche die Notfallstationen entlasten sollen. Betrachtet man als Fachperson jedoch die Lösungsvorschläge, so hat man das Gefühl, die Politik habe unsere Probleme doch noch nicht erkannt.
In der Sitzung anfangs Februar hat sich die SGK-N zur Umsetzung der parlamentarischen Initiative «Gebühr für Bagatellfälle in der Spitalnotfallaufnahme» beraten. Die SGK-N lässt nun zwei Varianten von der Bundesverwaltung auf Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung prüfen. Die erste Variante sieht vor, dass Menschen, die eine Notfallbehandlung aufgrund eines Bagatellfalls in Anspruch nehmen, eine Lenkungsabgabe zahlen müssen. Ein Selbstbehalt von 50 Franken ist die Idee der zweiten Variante, wenn eine Notfallbehandlung beansprucht wird, ohne überwiesen worden zu sein.
Die betroffenen Verbände haben sich zur Thematik bereits geäussert. In einer Pressemitteilung kritisierte die SGNOR und die Notfallpflege Schweiz diese Gebühr scharf. Ich versuche in diesem Beitrag darzustellen, weshalb die Vorschläge der SGK-N aus meiner Sicht nicht zielführend sind.
Sind die Notfallstationen überlastet wegen Bagatellfällen?
Die Initiative suggeriert, dass die Notfallstationen überlastet sind, weil sich Menschen mit Bagatellen melden, die auch ein Hausarzt oder eine Hausärztin behandeln könnte. Ist das wirklich so?
Dass die Zunahme von Patient:innen ohne dringlichen Behandlungsgrund eine Ursache für überfüllte Notfallstationen darstellt, gilt heute als überholt. Natürlich bedeuten diese Patient:innen einen Mehraufwand. Die Probleme dieser Menschen sind aber meist mit geringen Ressourcen zu lösen. Sie sind auch nicht die Hauptursache für die chronische Überlastung. Ein Grund für die Überlastung der Notaufnahmen ist die Verlangsamung des Abflusses von stationären Patient:innen von der Notaufnahme auf die Station. Der verlangsamte und teilweise fehlende Abfluss von stationären Patient:innen von der Notfallstation auf die Station ist laut Trzeczak (2013) als Hauptursache für die Überlastung der Notfallstationen zu bezeichnen.
Die Lösung für überfüllte und überlastete Notfallstationen muss demnach im Bettenbelegungsmanagement des Hauses gesucht werden. Trzeczak empfiehlt dabei eine Bettenauslastung von maximal 85 %, um effektiv arbeiten zu können.
Wieso landen Menschen mit nicht dringlichen Problemen auf dem Notfall?
Wir alle wissen, dass es auf Notfallstationen zu langen Wartezeiten kommen kann. Weshalb kommen dennoch so viele Menschen zu uns und vereinbaren keinen ambulanten Termin, wie es die Politik vorschlägt?
Reinhold et al. (2021) untersuchten, weshalb sich Personen mit niedriger Dringlichkeitsstufe auf eine Notfallstation begeben. Über zwei Drittel der untersuchten Patient:innen kamen auf die Notfallstation, weil sie ambulant keinen passenden Termin erhalten haben. Genauso viele Patient:innen schätzen sich selber als mittelschweren bis lebensbedrohlichen Notfall ein. Eine solche Selbsteinschätzung wird meist durch Schmerzen und Angst verursacht (Durand et al., 2012). Dies deckt sich mit meinen persönlichen Erfahrungen. «Der Hausarzt hatte leider keine Zeit, deshalb bin ich jetzt bei Ihnen» ist ein Satz, welcher ich im Triage-Dienst mehrmals in der Stunde höre.
Definition «Notfall»
Die beiden Vorschläge der SGK-N orientieren sich an der Definition des Notfalls im Entwurf zur Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG), die wie folgt lautet:
«Eine Notfallbehandlung liegt vor, wenn die Behandlung nicht aufgeschoben werden kann. Dies ist der Fall, wenn die versicherte Person ohne sofortige Behandlung gesundheitliche Schäden oder den Tod befürchten muss oder die Gesundheit anderer Personen gefährden kann» (KVG BBI, 2021, 746).
Darüber mussten sich Patient:innen bis anhin keine Gedanken machen. Sie konnten auf den Notfall, wenn sie es für richtig empfanden, bei grosser Angst oder bei Schmerzen. Wer sich in der Notfallmedizin auskennt, weiss, dass es eine klare Abgrenzung nach juristischer Definition zwischen Notfall und Nicht-Notfall nicht gibt. Ob ein Notfall nach KVG-Definition zutreffend ist, wäre retrospektiv von Fall zu Fall zu klären.
Wie wirksam ist eine Notfallgebühr?
Die Studienlage zur Untersuchung von Systemen, die versuchen, Konsultationen von Bagatellfällen zu reduzieren, ist dünn. Es gibt keine wissenschaftliche Evidenz, die beweist, dass eine Notfallgebühr Kosten spart. Sie scheint zwar wirksam zu sein, um die Notfallkonsultationen zu verringern, ist aber erst ab einer gewissen Betragshöhe wirkungsvoll (Hartung et al., 2008). Hohe Gebühren können aber notwendige Behandlungen verzögern, insbesondere bei einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen (Raven et al., 2016). Ein solches Gesetz erschwert den Zugang zu medizinischen Leistungen für mittellose Personen.
Fazit
Auch ich habe mich schon über Personen aufgeregt, die wegen eines Schnupfens in den Notfall kamen. Man muss aber immer bedenken, dass die Patient:innen in ihrer Situation, so banal diese auch sein mag, überfordert sind und Hilfe benötigen. Kaum jemand geht freiwillig auf die Notfallstation und lässt lange Wartezeiten über sich ergehen. Viele können ihren Gesundheitszustand nicht besser einschätzen oder haben keinen Termin in einer Praxis erhalten.
Die Einführung einer Notfallgebühr löst das Problem von überfüllten Notfallstationen nicht. Was die Notfallstationen vor allem brauchen, damit sie entlastet werden, ist ein effizienter Abfluss der Patient:innen, der jederzeit gewährleistet sein muss. Auch braucht unser Gesundheitswesen ein gut ausgebautes Netzwerk von ambulanten Dienstleistenden, die sich an den modernen Bedürfnissen unserer Patient:innen orientiert. Die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung muss zudem gefördert werden, damit die Menschen ihren Gesundheitszustand besser einschätzen können. Eine fehlende Gesundheitskompetenz mit einer Gebühr zu bestrafen, ist falsch und betrifft besonders die einkommensschwachen Menschen. Auch fördert die Gebühr die soziale Ungleichheit.
*Dieser Beitrag entstand im Kurs «Schreibkompetenz» während des Studiums zum Bachelor of Science FH in Nursing an der Careum Hochschule Gesundheit. Die Teilnehmenden wählten ein Thema, mit dem sie in der Regel in ihrem Berufsalltag in Berührung kommen. Die besten Beiträge wurden ausgewählt und für den Blog überarbeitet.
Quellen
- Durand, A.-C., Palazzolo, S., Tanti-Hardouin, N., Gerbeaux, P., Sambuc, R., & Gentile, S. (2012). Nonurgent patients in emergency departments: Rational or irresponsible consumers? Perceptions of professionals and patients. BMC Research Notes, 5(1).
- Hartung, D. M., Carlson, M. J., Kraemer, D. F., Haxby, D. G., Ketchum, K. L., & Greenlick, M. R. (2008). Impact of a Medicaid Copayment Policy on Prescription Drug and Health Services Utilization in a Fee-for-Service Medicaid Population. Medical Care, 46(6), 565–572.
- Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) (Vollstreckung der Prämienzahlungspflicht) (Entwurf). (2021).
- Raven, M. C., Kushel, M., Ko, M. J., Penko, J., & Bindman, A. B. (2016). The Effectiveness of Emergency Department Visit Reduction Programs: A Systematic Review. Annals of Emergency Medicine, 68(4), 467-483.e15.
- Reinhold, A. K., Greiner, F., Schirrmeister, W., Walcher, F., & Erdmann, B. (2021). Der Notfall „geht“ ins Krankenhaus: Eine Befragung von Patienten mit niedriger Dringlichkeit in einer Notfallaufnahme mit regionaler Alleinstellung. Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin, 116(6), 511–521.
- Parlamentarische Initiative vom 27.9.2017 (17480).
- Schweizerische Gesellschaft für Notfall- und Rettungsmedizin (SGNOR), Pressemitteilung: Überlastung der Notfallstationen: Die Notfallmediziner schlagen Alarm (12.1.2023). und Pressemittelung:Gebühr für Bagatellfälle in der Spitalnotfallaufnahme. Diese Gebühr von 50 Franken trifft die Falschen. (1.2.2023)
- Trzeczak, S. (2013). Überfüllte Notaufnahme: Ursachen, Folgen und Lösungen. Notfall + Rettungsmedizin, 16(2), 103–108.
Diskutieren Sie mit!
- Haben Sie schon einmal eine Notfallstation aufgesucht? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
- War Ihre Behandlung im Nachhinein als Notfall zu definieren?
- Was für Vorschläge oder Ideen haben Sie, die Notfallstationen zu entlasten?
Kommentare
Christian Braunschweiger
23.02.2024Ich war schon ein paar Mal auf dem Notfall, als Begleitperson. Ich erlebte volle Notfallstationen wo die Patienten reihenweise in den Gängen stehen mussten, ungeschützt vor den Blicken, da es einfach zu wenig Sichtschutz gab. Die Pflegefachleute waren sehr bemüht, kamen jedoch natürlicherweise an ihre Grenzen. Es hat meiner Einschätzung nach sehr zugenommen die überfüllten Notfälle, mehrmals musste schon der Notfall einen Aufnahme Stopp verhängen.
Ich schliesse mich der Meinung von Patrick Droll an. Niemand geht zum Spass in die Notfallstation. Ich finde seine Vorschläge sehr sinnvoll und denke sie haben einen Effekt.
Was natürlich voraussetzt, dass der Weggang von 300 Pflegenden monatlich, das sind im Jahr 3600! Pflegende gestoppt werden muss. Die Politik muss Lösungen finden und die Umsetzung der Pflegeinitiative vorantreiben. Es müssen Sofortmassnahmen ergriffen werden und es darf nicht sein, dass die Gefährdung der Gesundheitsversorgung so weiter voran schreitet.
Liebe Politik: Helft uns, damit wir helfen können!
Christian Braunschweiger
Patrick Droll
28.02.2024Vielen Dank für Ihren Kommentar und den wertvollen Einblick. Ihre Erfahrungen unterstreichen die Dringlichkeit, mit der wir auf die Herausforderungen in unserem Gesundheitssystem reagieren müssen.
Die adäquate Umsetzung der Pflegeinitiative, wie Sie sie ansprechen, empfinde ich als ein essenzieller Schritt, um den Ansprüchen der Gesellschaft gerecht zu werden und die Qualität der Gesundheitsversorgung zu verbessern.
Um effektive und nachhaltige Lösungen zu entwickeln, ist es unerlässlich, dass die Politik Fachpersonen aus dem Gesundheitswesen aktiv in ihre Diskussionen und Entscheidungsprozesse einbindet.
Prof.Dr Lorenz Imhof
24.02.2024Vielen Dank. Eine sehr gut argumentierte Stellungnahme, die das Problem exzellent aufzeigt.
Patrick Droll
28.02.2024Vielen herzlichen Dank für das Feedback!