Kinder zu Besuch auf der Intensivstation
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Ein Besuch auf der Intensivstation ist für Angehörige immer eine belastende Situation. Schon für erwachsene Angehörige ist es schwierig. Wie erlebt ein Kind einen Besuch auf der Intensivstation? Kann es ihm zugemutet werden?
Ein schwerer Autounfall reisst einen jungen Familienvater aus der Mitte seiner Familie. Diagnose: Schweres Schädelhirntrauma. Zur Überwachung wird eine Hirndrucksonde in die Schädeldecke operiert und ragt aus dem Kopf heraus. Kabel führen zu einem Monitor mit farbigen Kurven und Zahlen. Im Mund steckt der Beatmungsschlauch. Zwei dicke Schläuche verbinden ihn mit der laut pumpenden Beatmungsmaschine. Die Augen sind geschlossen. Kaum etwas erinnert mehr an den vitalen, starken Mann von zuvor.
Der Anblick ist schon für erwachsene Familienangehörige schwer zu ertragen. Wie reagieren kleine Kinder auf dieses Bild von ihrem Papa? Darf oder soll ein Kind seinen Vater so sehen? Traumatisiert dieser Anblick das Kind nicht nachhaltig?
Dürfen Kinder zu Besuch auf die Intensivstation?
Mit diesen Fragen sehen sich Familien und Behandlungsteams der Intensivstation (IPS) leider viel zu oft konfrontiert. Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass meist eine ablehnende Haltung gegenüber Kinderbesuchen auf der IPS vorherrscht. Unsicherheit und Unwissenheit führen oft dazu, dass den Kindern der Besuch verwehrt wird – auch wenn sie klar den Wunsch dazu äussern.
Was sagt die Fachliteratur dazu? Was löst ein Besuch auf der IPS bei einem Kind aus? Welches sind Folgen, wenn ihm verboten wird, Angehörige zu besuchen? Was sind Zeichen, dass ein Kind bereit ist für dieses schwierige Unterfangen? Und, wie kann man Kinder dabei unterstützen?
Die Schweizerische Fachgesellschaft für Intensivmedizin (SGI) gibt dazu ein klares Statement auf ihrer Website: Kindern soll der Zugang zur erkrankten Person ermöglicht werden. Dies helfe den Kindern, die Situation besser zu verstehen. Es wird aber betont, dass die jungen Besucherinnen und Besucher eine gute Begleitung durch enge Familienmitglieder brauchen. Aber auch die Bereitschaft des Behandlungsteams, Fragen des Kindes zu beantworten, ist wichtig.
Wie kommt die SGI zu dieser Erkenntnis? Laut Ewens et al. (2021) stellt sich bei Kindern, die unerwartet von ihren engen Bezugspersonen getrennt sind, eine Stressreaktion ein. Dieses Ereignis geht mit weitreichenden emotionalen Langzeitfolgen einher. Es kommt zu einer trauerähnlichen Reaktion beim Kind. Nicht selten entwickelt sich daraus ein Ablehnungsverhalten, wenn die Person wieder genesen ist.
Dieses Phänomen wird als Trennungsangst-Störung definiert und kann in jeder Altersgruppe bei Kindern auftreten. Die Folgen davon sind der Verlust des Selbstvertrauens, die Entwicklung von Phobien und psychische Probleme beim Übertritt ins Erwachsenenalter. Möchte man das Kind schützen und verwehrt ihm den Besuch auf der IPS, obschon es den Wunsch dazu äussert, kann dies negative Folgen mit sich ziehen.
Ewens et al. (2021) berichten, dass Kinder, die ihre nahen Angehörigen besuchen durften, sich ernst genommen und ruhiger fühlen. Es ist erwiesen, dass ein Einbezug der gesamten Familie die Zufriedenheit steigert. Auch wird nachweislich eine mögliche Entwicklung von Delirium oder Angst bei Patient:innen reduziert.
Was braucht ein Kind während des Besuchs?
Kinder sind keine «kleinen erwachsenen» Besucherinnen und Besucher. Sie brauchen Unterstützung vor, während und nach dem Besuch auf einer IPS. Sowohl von Elternseite wie auch von der zuständigen Pflegefachperson und dem behandelnden ärtztlichen Fachpersonal.
Das Kinderspital Zürich hat ein Merkblatt erarbeitet, wie Kinder bei ihrem Besuch auf der IPS unterstützt werden können: Als Vorbereitung soll man das Kind fragen, was es schon weiss. Man soll es ermutigen, Fragen zu stellen. Vielleicht hilft ihm ein Foto zum Klären von Fragen. Dies kann es auch auf den Anblick der geliebten Person vorbereiten. Während des Besuchs darf das Kind ermutigt werden, mit der angehörigen Person zu sprechen, sie anzufassen. Sollte es während des Besuchs lieber ein Büchlein anschauen wollen, ist das auch in Ordnung.
Die Pflegenden können das Kind in einfache Pflegeverrichtungen miteinbeziehen. Zum Beispiel kann dem Kind der Bauch abgehört werden, bevor es an den Patient:innen durchgeführt wird. Oder das Kind darf den Fingerhut aufsetzen, welcher die Sauerstoffsättigung im Blut misst. Auch wenn Pflegefachkräfte Material für Rollenspiele (Spritzen, Verband) bereitstellen, hilft dies dem Kind, das Erlebte besser zu verstehen.
Es sollte sorgfältig auf Zeichen geachtet werden, wenn das Kind signalisiert, dass es die IPS verlassen möchte. 15 bis 30 Minuten reichen oftmals aus. Danach soll das Kind Zeit für aufkommende Fragen erhalten: Wie hat das Kind den Besuch erlebt, welche Eindrücke sind ihm geblieben? (Kinderspital Zürich, Geschwisterkinder auf der Intensivstation, o.J.)
Was bedeutet der Besuch für die Erwachsenen?
Der Besuch von Kindern auf einer IPS bedeutet auch für das Pflegepersonal einen zusätzlichen Aufwand – sowohl physisch als auch psychisch. Sie übernehmen beim Besuch von Kindern eine Schlüsselrolle.
Laut Ewens et al. (2021) fühlen sich Pflegende dieser Rolle oftmals nicht gewachsen, sind unvorbereitet und zu wenig kompetent. Um sich selbst vor schwierigen Situationen zu schützen, lehnen sie die Besuche von Kindern oftmals ab. Grund dafür kann fehlendes Wissen über die betrieblichen Abläufe sein. Aber auch Unwissenheit, was ein Kind in welchem Alter an Unterstützung benötigt. Pflegende fürchten sich vor dem Leid, das dem Kind widerfahren könnte aufgrund der nicht fachgerechten Begleitung. Dies, obschon sich viele Pflegende bewusst sind, dass der Nutzen grösser ist, als wenn die erkrankte nahestehende Person nicht besucht werden darf. Auch wird ihnen die Aufgabe zuteil, den gesunden Elternteil oder die erziehungsberechtigte Person zu beraten und zu begleiten. Denn auch sie teilen die Ängste der Pflegenden und möchten nur das Beste für ihr Kind.
Was ist zu tun?
Gezielte Schulungsprogramme für Mitarbeitende auf der IPS könnten Lücken schliessen und Kinderbesuche fördern. Es braucht klar definierte, transparente Prozesse, die eingesetzt werden, um Kindern den Besuch bei der geliebten Person zu erleichtern. Zudem müssen den Pflegefachleuten Methoden gezeigt werden, wie sie sich selber emotional schützen können während der schwierigen Begegnung.
Standardisiertes, evidenzbasiertes Informationsmaterial und klar definierte Abläufe bei Kinderbesuchen müssen formuliert werden. Dies unterstützt den Aufbau von Vertrauen beim Pflegepersonal und fördert eine Kultur der «best practice» (Ewens et al., 2021).
Gehören Kinder also auf die Intensivstation?
Ja! Wenn das Kind den Wunsch äussert und die entsprechende Begleitung und Betreuung erhält, ist der Nutzen eines Besuches auf der Intensivstation unglaublich wertvoll für die gesamte Familie. Aber auch für das Behandlungsteam und vor allem auch für die Patient:innen durch diese familienzentrierte Betreuung!
Lesetipp
Empfehlung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin: Kinder als Angehörige und Besuchende auf Intensivstationen, pädiatrischen Intensivstationen, IMC-Stationen und in Notaufnahmen.
Elterninformation des Universitäts-Kinderspitals Zürich: Geschwisterkinder auf der Intensivstation (o. J.)
Kinder zu Besuch auf der Intensivstation – SGI-SSMI-SSMI Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin (o.J.), abgerufen am 06.07.2022 unter: Kinder zu Besuch auf der Intensivstation – SGI-SSMI-SSMI Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin
Literatur
Ewens, B., Collyer, D., Kemp, V., & Arabiat, D. (2021). The enablers and barriers to children visiting their ill parent/carer in intensive care units: A scoping review. Australian Critical Care, 34(6), 604–619. Abstract.
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- Welche Erfahrungen haben Sie als Pflegende in Ihrer Institution gemacht? Welche Erfahrungen als Angehörige?
- Existiert ein Leitfaden für Kinderbesuche auf der Intensivstation?
- Wo braucht es mehr Sensibilisierung? Und wie kann diese aussehen?
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