Gesundheits- und Sozialsystem stärker miteinander verknüpfen
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Im Zusammenspiel zwischen Gesundheits- und Sozialwesen bestehen gravierende Herausforderungen. Dies zeigen Interviews mit Expert:innen. Gleichzeitig liefern sie wertvolle Erkenntnisse für konkrete Lösungsansätze.
Das Gesundheitssystem der Schweiz steht durch den demographischen Wandel, die Zunahme von chronischen Erkrankungen und den damit einhergehenden, immer komplexer werdenden Behandlungen vor grossen Herausforderungen (SAMW, 2019). Insbesondere die komplexen und multiplen Erkrankungen können mit sozialen Ursachen und/oder Folgen einhergehen. So liegen für die Schweiz verschiedene Berichte vor, die Zusammenhänge bzw. eine wechselseitige Beeinflussung zwischen sozialen Faktoren und Gesundheit bzw. Krankheit dokumentieren (Bayer-Oglesby et al., 2020; Spycher et al., 2021).
Verschiedene Autor:innen (Homfeldt & Gahleitner, 2018; Hosek et al., 2020) folgern daraus, dass eine Kooperation von Gesundheitsfachberufen (inklusive der Medizinalberufe) mit der Sozialen Arbeit von unerlässlicher Bedeutung ist.
Careum engagiert sich aktiv für eine bessere Verknüpfung der beiden Systeme «Sozialwesen» und «Gesundheitswesen» und macht sich in verschiedenen Projekten, wie zum Beispiel der Careum Summer School, stark für systemübergreifendes, interprofessionelles Lernen und Zusammenarbeiten.
In mündlichen Befragungen von 13 Expert:innen an der Schnittstelle von Gesundheit und Sozialem sowie einer betroffenen Patientin konnte ich zusammen mit meiner Kollegin Alexandra Wirth Herausforderungen an den Schnittstellen analysieren, Lösungsmöglichkeiten aufzeigen und zukünftig besonders relevante Schwerpunktsetzungen zur besseren Verknüpfung dieser beiden Systeme ableiten.
Tiefgreifende Herausforderungen unterstreichen den Handlungsbedarf
Zunächst dokumentieren die Interviews mitunter gravierende Herausforderungen im Zusammenspiel von Gesundheits- und Sozialwesen sowie einen damit einhergehenden, dringenden Handlungsbedarf.
«Der Übergang zwischen Gesundheits- und Sozialwesen ist weder strukturiert noch standardisiert.» (Zitat aus den Interviews)
Besonders herausfordernd sind die fehlenden Übersichten zu Anlaufstellen und die unklaren Zuständigkeiten und Finanzierungssystematiken, wenn es um die Versorgung von Patient:innen mit sozialem Unterstützungsbedarf geht. Die Lage ist zum Teil so komplex, dass selbst den involvierten Gesundheitsfachpersonen oft das Wissen und der Überblick fehlen. Dies kann letztlich zu Lasten der betroffenen Patient:innen und langfristig zu höheren Belastungen und Kosten der Gesundheits- und Sozialsysteme führen. Besonders drastisch zeigt sich dies beispielsweise bei Entlassungen aus stationären psychiatrischen Settings (z.B. von Menschen mit Suchterkrankungen), wenn hier die Anschlüsse und die nachsorgenden sozialen Unterstützungen nicht ausreichend informiert und organisiert sind.
«Soziale Arbeit ist kein anerkannter Gesundheitsberuf. Dies bedeutet, dass die Finanzierung der Leistungen der Sozialen Arbeit nicht per se angedacht ist und somit eine grosse Herausforderung darstellt.» (Zitat aus den Interviews)
Es wird auch deutlich, dass die Vergütung der Sozialen Arbeit weder einheitlich noch klar geregelt ist, denn gesundheitsbezogene Soziale Arbeit ist kein Gesundheitsberuf und daher nicht im Gesundheitsberufegesetz verankert. Zudem sind die Kompetenzen der Sozialen Arbeit im Gesundheitswesen nicht hinreichend bekannt.
Die Patient:innen und Betroffenen sollten im Zentrum der Bemühungen stehen
Lösungsmöglichkeiten und Visionen werden in den Interviews ebenfalls breit gefächert aufgezeigt. Für bio-psycho-soziale Ansätze zu Gesundheit und Krankheit von Betroffenen ist ohne Zweifel ein mit Blick auf soziale Gesundheitsaspekte geschultes Personal nötig.
«Das Wissen [von klinisch Sozialarbeitenden] muss man integrieren, was in der Folge entsprechend Kosten verursacht.» (Zitat aus den Interviews)
Daher braucht es einen stärkeren Einbezug von gesundheitsbezogener Sozialer Arbeit und ihre Etablierung als Gesundheitsberuf, was auch die Vergütungssituation erleichtern würde.
Interprofessionelle Zusammenarbeit und interinstitutionelle Netzwerkstrukturen könnten die Kompetenzen der Sozialen Arbeit verdeutlichen, den Einbezug sozialer Determinanten in der Versorgung stärken und damit insgesamt die Qualität der Gesundheitsversorgung verbessern. Stabile Netzwerke und entsprechende Kooperationen, wie z.B. stationäre und Rehaeinrichtungen, Hausärzt:innen, Pflege- und Altersheime, Sozialämter/-dienste, Gemeinden oder Spitexdienste, würden eine gute Grundlage für die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Fachkräften in Gesundheit und Sozialem legen.
Besonders evident wurde auch die Bedeutung von interprofessionellen Bildungssettings sowie die damit verbundene Annäherung auf institutioneller wie Lernendenebene, um die Verknüpfung zwischen Gesundheit und Sozialem für die Versorgungspraxis besser vorzubereiten. Dabei geht es nicht um Detailwissen, sondern um ein gegenseitiges Grundverständnis des jeweils anderen Systems und um Wissen zu Handlungsoptionen an den jeweiligen Schnittstellen.
«Es ist gut, wenn jemand die Koordination des Ganzen übernimmt, egal welche Berufsgruppe dies dann auch realisiert.» (Zitat aus den Interviews)
Es braucht weiterhin gute Übersichten zu Leistungen, Organisationen und wichtigen Playern im Gefüge aus Gesundheit und Sozialem. Vor diesem Hintergrund beinhalten Wünsche und Visionen auch das Schaffen neuer Berufsbilder. Darunter finden sich Begriffe wie das Berufsbild einer Fachperson Gesundheit und Soziales, eines Gesundheitscoaches und Patientenmanagers oder die Etablierung eines spezialisierten Weiterbildungsgangs zu einer Navigationsfunktion.
Denn es wäre ohne Zweifel hilfreich, wenn Patient:innen im Gesundheitswesen Begleiter:innen hätten, die sich auch in den gesundheitsbezogenen sozialen Bereichen auskennen und aus diesem Wissen heraus eine übergeordnete Gesamtkoordination für die Betroffenen übernehmen könnten.
«Es braucht eine politische Einsicht, dass da künstlich zwei Systeme und damit auch Systemgrenzen geschaffen werden, die relativ undurchdringlich sind. Dies müsste aber nicht so sein, die Grenzen der Systeme müssten viel durchlässiger werden.» (Zitat aus den Interviews)
Politische Prozesse könnten ebenfalls dabei unterstützen, die Systemgrenzen zwischen Gesundheit und Sozialem durchlässiger zu machen und auf verschiedenen Ebenen (Gesetzgebung, Finanzierung, Kantone, Gemeinden usw.) entsprechende Entwicklungen anzustossen und weiterzudenken.
Wie geht es weiter?
Abgeleitet aus den Interviews sollten zukünftige Bemühungen vor allem auf drei wesentliche Punkte abzielen: Übersichten von Zuständigkeiten an den Schnittstellen von Gesundheit und Sozialem erstellen, interprofessionelle Bildungssettings und -projekte fördern und die Idee einer Navigationsfunktion intensiver diskutieren und vertiefen.
Publikation
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Quellen
- Bayer-Oglesby, L., Bachmann, N., & Zumbrunn, A. (2020). Soziale Lage und Spitalaufenthalte aufgrund chronischer Erkrankungen. Retrieved 21.03.2022, from https://www.obsan.admin.ch/de/publikationen/2020-soziale-lage-und-spitalaufenthalte-aufgrund-chronischer-erkrankungen
- Homfeldt, H. G., & Gahleitner, S. B. (2018). Gesundheit und Krankheit. In G. Graßhoff, A. Renker, & W. Schroer (Eds.), Soziale Arbeit: Eine elementare Einführung (Vol. 1. Aufl., pp. 43-54). Springer Fachmedien.
- Hosek, M., Honegger, E., & Stadler, A. (2020). Bessere Behandlung durch Sozialberatung in der Hausarztpraxis. Bulletin des médecins suisses, 101(41), 1318-1320.
- SAMW. (2019). Nachhaltige Entwicklung des Gesundheitssystems - Positionspapier der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften. Swiss Academies Communication, 14(2).
- Spycher, J., Morisod, K., Eggli, Y., Moschetti, K., Le Pogam, M., Peytremann-Bridevaux, I., Bodenmann, P., & Marti, J. (2021). Indicators on Healthcare Equity in Switzerland. New Evidence and Challenges.
Diskutieren Sie mit!
- Braucht es eine Navigationsfunktion als «Vermittler» zwischen Gesundheits- und Sozialsystem und wie könnte diese realisiert werden?
- Wie könnten idealerweise interprofessionelle Bildungssettings (Aus- und Weiterbildung) zwischen Sozial- und Gesundheitsfach- bzw. Medizinalberufen aussehen und welche Themen wären hier besonders spannend?
Kommentare
Mirjam Aschwanden
06.11.2023Vielen Dank an Herr Ulrich für diesen interessanten und wichtigen Bericht.
In der Tat ist eine engere Zusammenarbeit wichtig, um den Lebenswelten der Klientinnen und Klienten gerecht zu werden.
Im Vorarlberg wurde dieser Ansatz in einem regionalen Konzept realisiert und in fast jedem Dorf/Stadt gibt es einen Stützpunktservice für Pflege und Betreuung. Dies ist eine Anlaufstelle und Drehscheibe für Pflege UND Betreuung. An den Stützpunkten wird aktives Case Management in Zusammenarbeit von Pflege und Sozialarbeit betrieben.
Ein sehr spannender Ansatz, wie ich bei einem Besuch erst kürzlich erfahren durfte.
Freundliche Grüsse Mirjam Aschwanden
Gert Ulrich
07.11.2023Vielen Dank an Frau Aschwanden für den Kommentar. Das ist ein sehr interessanter Hinweis mit dem Ansatz in Vorarlberg. Gerne werden wir dazu genauer recherchieren. Wir sind immer auf der Suche nach Best-Practice Beispielen, sowohl im In- als auch Ausland. Ich habe das Gefühl, dass sich in dieser Thematik im DACH-Raum mehr und mehr bewegt. Insbesondere ist ja in Österreich bereits das "Social Prescribing" schon weiter fortgeschritten, von dem wir auch einiges transferieren könnten. Nochmals besten Dank für den Tipp.
Freundliche Grüsse
Gert Ulrich
Christian Braunschweiger
16.11.2023Sehr geehrter Herr Dr. Ulrich
Ich finde die Darstellung der Zusammenfassung der wichtigsten Aspekte der Interviews sehr ansprechend und in eine neue Form gebracht.
Viele Grüsse
Christian Braunschweiger
Gert Ulrich
20.11.2023Sehr geehrter Herr Braunschweiger
Herzlichen Dank für den Kommentar. Ich freue mich sehr, dass die Darstellung und Zusammenfassung Anklang bei Ihnen findet.
Freundliche Grüsse
Gert Ulrich
Katharina Dalbert
22.11.2023In meiner Funktion als Gesundheitskoordinatorin an der Infostelle Alter und Gesundheit der Gemeinde Thalwil vereine ich in meiner täglichen Arbeit seit vielen Jahren diesen Ansatz. Als ausgebildete Pflegefachfrau mit verschiedenen Weiterbildungen im Bereich Sozialarbeit, Sozialversicherung und Case Management kann ich mein Fachwissen in beiden Gebieten zu Gunsten meiner Klienten einsetzen.
Gert Ulrich
22.11.2023Sehr geehrte Frau Dalbert
Besten Dank für Ihren Kommentar und Glückwunsch zu Ihrer Tätigkeit. Es ist schön zu hören, dass Sie Gesundheit und Soziales in Ihrer täglichen Arbeit integrieren und Sie die entsprechenden Weiterbildungen dazu aufweisen.
Dies ist sicherlich idealtypisch, und es braucht mehr Funktionen wie die Ihre mit dem Blick für beide Systeme bzw. mehr Aufmerksamkeit dafür.
Freundliche Grüsse
Gert Ulrich
Roberto Canali
01.03.2024Sehr geehrter Herr Dr. Ulrich
es ist großartig zu hören, dass Social Prescribing auch im deutschsprachigen Raum immer mehr Anerkennung findet! Länder wie Großbritannien, Irland, Kanada und China haben bereits positive Erfahrungen mit der Verknüpfung von medizinischer Primärversorgung und sozialen Angeboten gemacht. Es ist ermutigend zu sehen, dass auch hierzulande mehrere Projekte in diese Richtung gehen.
Als Mitglied des Organisationsteams für den anstehenden 2. Deutschen Social Prescribing Online-Kongress am 15. Mai möchte ich Sie herzlich dazu einladen, an diesem wichtigen Ereignis teilzunehmen. Es wird eine gute Gelegenheit sein, sich mit Experten auszutauschen, neue Erkenntnisse zu gewinnen und die Zukunft von Social Prescribing mitzugestalten. Bitte lassen Sie mich wissen, ob Sie interessiert sind, und ich sende Ihnen gerne einen Call for abstract zu.
Beste Grüsse
Gert Ulrich
04.03.2024Sehr geehrter Herr Canali
Besten Dank für Ihren Kommentar und den freundlichen Hinweis zum Social Prescribing Kongress. Das klingt sehr interessant. Sie können mir gerne die entsprechenden Informationen zu dieser Veranstaltung zukommen lassen (gert.ulrich@careum.ch). Der Termin ist bereits in meiner Agenda eingetragen.
Freundliche Grüsse
Gert Ulrich