Erschöpfte Frau

Erschöpfung – ein Phänomen von grosser Tragweite

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Müde, ausgelaugt, kraft- und mutlos. Nur einige Adjektive, mit denen erschöpfte Personen ihren Zustand beschreiben. Erschöpfung hinterlässt längst Spuren in allen Bereichen der Gesellschaft – nicht erst seit der Pandemie und ihren Folgen.

In der Pflege ist Erschöpfung ein stets präsentes, mehrdimensionales Phänomen, das sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen zeigt: bei Patient:innen, bei pflegenden Angehörigen und nicht zuletzt auch bei Health Professionals. Die Corona-Pandemie hat den Begriff der Erschöpfung noch deutlicher an die Oberfläche gebracht. Die grossen Herausforderungen und die ständigen Anpassungsleistungen, die heute von allen verlangt werden, zehren an den Kräften und am Selbstvertrauen. Auch wächst die Sorge um den sozialen Zusammenhalt und das Zusammenleben (Bertelsmann Stiftung, n.d.).

Schaut man genauer hin, sind da die Direktbetroffenen, die krankheits- oder therapiebedingt erschöpft sind. Über 30 Prozent der erwachsenen Patient:innen, die in der Primärversorgung gesehen werden, beschreiben den Zustand der Fatigue (Fosnocht & Ende, 2021), wie Erschöpfung in der Fachsprache genannt wird.

Erschöpfung rechtzeitig wahrnehmen

Erschöpfung schränkt die Lebensqualität ein. Fatigue wird häufig in der Palliativpflege oder in der onkologischen Pflege beobachtet und dokumentiert (Stone & Minton, 2008). Aber auch alte Menschen fühlen sich häufig erschöpft, wenn die Körperkräfte schwinden und die Agilität nachlässt. Erst in den letzten Jahren wird die Dimension der Fatigue für die geriatrische Fachpflege deutlich. Aber nicht nur die kranken, pflegebedürftigen und alten Menschen sind erschöpft: Auch ihr Umfeld ist davon betroffen.

Pflegende Angehörige, die über viele Jahre die häusliche Versorgung aufrechterhalten und oft verhindern, dass eine stationäre Langzeitversorgung der Pflegebedürftigen geschieht, sind häufig chronisch erschöpft und leiden still (Götze et al., 2015). Die grossen Herausforderungen, Beruf, Familie und persönliche Momente mit der Pflege von Angehörigen unter einen Hut zu bekommen, werden inzwischen immer besser erkannt und in verschiedenen Ansätzen aufgegriffen. Wenn wir über Jahre versuchen, die verschiedenen Lebensbereiche miteinander zu vereinbaren, (vgl. Bischofberger, 2023) sind wir am Ende oft erschöpft, körperlich wie psychisch.

Dies gilt nicht nur für pflegende Angehörige, sondern insbesondere für die professionellen Gesundheits- und Pflegefachpersonen. Die vergangenen Jahre haben dies deutlich gezeigt.

Erschöpfung zeigt sich in vielen Dimensionen: körperlich, geistig und emotional. Oft wird auch von Müdigkeit oder Energielosigkeit gesprochen. Die Abgrenzung ist schwierig, der Übergang fliessend. 

Erschöpfte Frau

Erschöpfung zeigt sich in verschiedenen Dimensionen. Bild: depositphotos.

Der Erschöpfung ganzheitlich auf den Grund gehen

Die Ursachen der Erschöpfung sind so vielfältig wie ihre Erscheinungsformen. Daher beginnt eine erfolgreiche Behandlung mit einer sorgfältigen und genauen Einschätzung des Ist-Zustandes. Insbesondere sollen auch die Aktivitäten des täglichen Lebens und die Phasen von Ruhe und Schlaf analysiert werden (Greenberg, 2002).

Ärztliche und pflegerische Anamnesen und ausgewählte Assessmentinstrumente helfen, die beeinflussenden Faktoren sichtbar zu machen und zu dokumentieren. In der allgemeinen Pflege werden die Fatigue Assessment Skala oder die Fatigue Severty Skala angewendet.

Anhand weniger Fragen können die Betroffenen einschätzen, ob und wie stark sie erschöpft sind. Fachspezifisch stehen inzwischen auch Einschätzungsinstrumente für Menschen mit verschiedenen Erkrankungen, wie z. B. Multipler Sklerose, zur Verfügung.

Erschöpfung betrifft auch das Gesundheitspersonal. Auch hier ist das Phänomen nicht neu. Durch die Pandemie hat es jedoch eine neue Dimension erreicht. (Hiss et al., 2022). Die Formen der Erschöpfung können sehr unterschiedlich sein. Zu schnell wird an Burnout gedacht.

Hier ist eine Differenzierung notwendig. So hat Joinson bereits 1992 den Begriff der «compassion fatigue» eingeführt. Damit ist eine Erschöpfung der Kräfte gemeint, die normalerweise die Leidenschaft für und in helfenden Berufen nähren.

Wissen unterstützt klinische Handlungsfähigkeit

Erschöpfung kommt meist schleichend, wie ein Chamäleon. Sie versteckt sich hinter allem Möglichen und zeigt ihr wahres Gesicht erst spät. Dann, wenn sie schon fortgeschritten ist und sich die Symptome deutlich zeigen. Im Nachhinein fragen sich viele Betroffene, wie es nur so weit kommen konnte, warum man nicht besser aufgepasst hat. Fragen, die nicht selten Schuldgefühle und einen Eindruck von Versagen hervorrufen.

Das Wissen über Entstehung, Erscheinungsformen und Behandlung von Erschöpfung hilft Gesundheitsfachpersonen, Betroffene und ihr Umfeld in dieser Situation zu begleiten und das komplexe Symptom zu verstehen.

Dabei die eigenen physischen und psychischen Kräfte im Auge zu behalten, ist eine wichtige Aufgabe und Voraussetzung für den langfristigen Verbleib im Gesundheitsberuf.

Quellen

Bertelsmann Stiftung (n.d.). Erschöpfte Gesellschaft. Auswirkungen von 24 Monaten Pandemie auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Gütersloh.

Bischofberger, I. (2023). Work & Care – der Weg zur Vereinbarungskompetenz. Hogrefe Verlag.

Fosnocht, K.M. & Ende, J. (2021). Approach to the adult patient with fatigue. UpToDate. PDF.

Götze, H., Brähler, E. , Gansera, L., Schnabel, A. & Köhler, N. (2015). Erschöpfung und Überlastung pflegender Angehöriger von Krebspatienten in der palliativen Situation. Psychother Psychosom Med Psychol, 65(02): 66–72. Abstract.

Greenberg, D.B. (2002). Clinical Dimensions of Fatigue. Primary Care Companion Journal Clinical Psychiatry, 4(3): 90–93. Abstract.

Hiss, D., Wege, A., Hirschmüller, A. & Diehl, E. (2022). Atemlos durch die Schicht - Erfahrungen von Altenpflegekräften während der COVID-19-Pandemie. In: pflegen: palliativ, Heft 53, Friedrich Verlag.

Joinson, C. (1992). Coping with compassion fatigue. Nursing, 22(4): 116–121.

Stone, P.C. & Minton, O. (2008). Cancer related fatigue. European Journal of Cancer, 44: 1097–1104. Abstract.

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