Frau hat Schmerzen im Spital

Schmerz ist etwas sehr Persönliches. In den meisten Fällen lässt sich eine Ursache finden, wodurch die Schmerzen gelindert werden können. Doch Schmerzen haben nicht immer eine körperliche Ursache. Welche Herausforderungen begegnen Patient:innen und Behandler:innen bei der Therapie chronischer Schmerzen im Akutspital? Was, wenn Pest und Cholera nebeneinander existieren?

Lisa betritt in Begleitung einer Pflegefachperson die Bettenstation. Sie kommt vom Notfall. Nicht zum ersten Mal in diesem Jahr. Plötzlich kommt er wieder, der Schmerz, der sich alles zusammenziehende Schmerz im Bauchraum. Lisa muss sich an der Wand abstützen, damit sie nicht auf den Boden sackt. Die Augen der Pflegefachperson werden gross: «So schlimm?». «Ja, so schlimm», denkt Lisa und würgt vor Schmerz. «Geht gleich wieder, geben Sie mir bitte den Opiat-Bolus [intravenöse Gabe eines Schmerzmittels stärkster Stufe, um eine möglichst rasch eintretende Wirkung zu erzielen], wie eben mit der Ärztin abgemacht.» «Wir gehen erst ins Zimmer, dann schauen wir weiter», sagt die Pflegefachperson freundlich, aber bestimmt. «Natürlich gebe ich ihn dir, aber ein Paracetamol würde wohl auch reichen. Schliesslich wurde beim letzten Mal auch nichts gefunden», denkt die Pflegefachperson.

Schmerzen sind individuell

Schmerzen sind gemäss der Weltschmerzorganisation IASP (international Association for the study of Pain) ein unangenehmes Sinnes -und Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder zu erwartenden Gewebeschädigung verknüpft ist. Die IASP (Pain Terms and Definitions, 2021) definiert hierzu sechs weitere Merkmale:

1. Schmerz ist immer ein individuelles Erleben, das durch biologische, soziale und psychische Faktoren mitbestimmt wird.
2. Schmerz und Nozizeption (Empfindung von Schmerz) sind unterschiedliche Dinge. Schmerz lässt sich nicht ausschliesslich durch «neuronale Leitungen» erklären.
3. Durch Lebenserfahrung lernt der Mensch das Konzept «Schmerz».
4. Wenn eine Person eine Erfahrung als Schmerz bezeichnet, sollte dies respektiert werden.
5. Schmerz hat einen Einfluss auf das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit.
6. Die verbale Äusserung von Schmerz ist nur ein Ausdruck von Schmerz: keine verbale Äusserung bedeutet nicht, dass keine Schmerzen vorhanden sind.

Die Intensität, mit der Schmerz erlebt wird, hängt laut Nobis et al. (2020) nicht nur von der Weiterleitung des Schmerzreizes ins Gehirn ab. Soziale und psychische Faktoren spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle. Interessanterweise stammt das Wort «Schmerz» aus dem Mittelhochdeutschen, wo «Pein» und «Weh» für körperliche Schmerzen verwendet wurden. «Pein» hat seine Wurzeln im griechischen «ponos» (Last, Busse) und im lateinischen «poena» (Strafe). Im Althochdeutschen hiess es «pina» und wurde im Mittelhochdeutschen zu «pine»; oft im Zusammenhang mit Bestrafung für Sünden. Die verschiedenen Begriffe zeigen, wie komplex Schmerz wahrgenommen und verstanden wird.


Chronische Schmerzstörung

Der medizinischen Behandlung von Schmerzen liegt in aller Regel eine Ursache zu Grunde. Lässt sich diese finden und beheben, lassen Schmerzen nach. Wenn deren Ursache nicht klar ist, können Schmerzen chronisch werden. Der Schmerz wird dann zur Erkrankung selbst: zur chronischen Schmerzstörung.

Die Ergebnisse einer grossangelegten Studie (mit 15 europäischen Teilnehmerländern und Israel) aus dem Jahr 2006 lassen aufhorchen: In Europa leiden mindestens 19 Prozent aller erwachsenen Personen an chronischen Schmerzen. Diese geben an, dass die Schmerzintensität mittel bis schwer sei. Die Lebensqualität ist dann so stark eingeschränkt, dass das soziale und berufliche Leben schwierig ist. Weiter wird beschrieben, dass fast die Hälfte dieser Personen eine unzureichende Schmerzbehandlung erfährt (Breivik H., 2006). Laut dem Universitätsspital Zürich (Zürich, 2024) sind aktuell in der Schweiz rund 1,5 Millionen Menschen betroffen.

39 Prozent von ihnen haben immer Schmerzen, 35 Prozent täglich, 26 Prozent mehrmals pro Woche. Für die meisten Betroffenen ist das Problem nicht neu: Im Durchschnitt kämpfen sie seit 7.7 Jahren mit chronischen Schmerzen. Dabei sind bei weitem nicht nur ältere Menschen betroffen: In einer grossen Studie war jeder fünfte Schmerzpatient jünger als 30 Jahre, das Durchschnittsalter lag bei 48 Jahren.

Schmerzmanagement

Schmerzen sind eine höchst individuelle Geschichte. Foto: Depositphotos.

Chronische Schmerzen im Spital

Patient:innen mit chronischer Schmerzstörung sind im Akutspital vielen Stigmata und Meinungen, auch des Fachpersonals, ausgesetzt.

In einer Studie von Martorella et al. (2019) aus dem Jahre 2017 wurden 482 Pflegefachpersonen auf Notfallstationen in den USA nach ihren Einstellungen («attitudes»), Überzeugungen («beliefs») und ihrem Wissen («knowledge») in Bezug auf Schmerzen befragt. Die Befragung zeigt Folgendes:

1. Patient:innen mit chronischer Schmerzstörung sind von ihrer Medikation abhängig/«süchtig».
2. Patient:innen mit chronischer Schmerzstörung neigen dazu, zu übertreiben.
3. Patient:innen mit chronischer Schmerzstörung setzen ihre Aktivitäten fort, was bedeutet, dass die Schmerzen nicht so schlimm sein können.

In der Studie wurden weitere Merkmale und Zusammenhänge untersucht. Es konnte gezeigt werden, dass eine «positivere» Einstellung der Pflegenden zu Schmerzen mit einem höheren Bildungsniveau und eigener Erfahrung mit chronischen Schmerzen einhergeht. Allerdings hat die Studie auch ergeben, dass eigene Erfahrung nicht unbedingt zur besseren Schmerzbehandlung führt. Die Studie von Martorella et al. (2019) plädiert für die Durchführung von Schulungsprogrammen und Schmerzkampagnen für Fachpersonen, um deren Wissen zu erweitern. Nach dem Credo: Informierte Pflegende sehen mehr (Behandlungs-)Möglichkeiten.

Der Forschungsbeitrag von Cohen et al. (2011) hat indes untersucht, inwiefern das dualistische Denken (=die scharfe Trennung von Körper und Geist) einen Einfluss auf die Stigmatisierung von Patient:innen mit chronischer Schmerzstörung hat. Sie weisen darauf hin, dass nach René Descartes (1596-1650), dem Vater der dualistischen Theorie in der westlichen Medizin, die Erforschung und Behandlung von Krankheiten, in diesen zwei «Kategorien» gedacht werden muss. So müsste, gemäss Descartes, bei einer chronischen Schmerzstörung entweder von «einem gestörten Körper» oder von einem «gestörten Geist» gesprochen werden. Sch(m)erzhaft, nicht?

Die Zuschreibung einer «psychischen Störung» impliziert einen «schwachen Geist» – ein weiteres Stigma. Und sie führt zu einer «Fehletikettierung», was wiederum zu einer unangemessenen Behandlung führt. Schmerzforschende wissen heute, dass sich Pest und Cholera die Hand geben können.

Behandlung der chronischen Schmerzstörung

Die Behandlung chronischer Schmerzen muss umfassend sein: Sie sollte die Psyche, den Körper, aber auch soziale Faktoren einbeziehen. Dies kann durch Psychotherapie, durch Führen von Schmerztagebüchern, einer angepassten medikamentösen Strategie, Bewegung und Physiotherapie erreicht werden.
Eine Linderung von Schmerzen kann auch durch das Erleben und Erlernen von Entspannungsmethoden wie Achtsamkeitstraining oder Progressiver Muskelentspannung nach Jacobsen sowie durch das Training sozialer und emotionaler Fähigkeiten und durch Ausdrucks- und Aktivierungstherapien (Stützer, 2024) erzielt werden.

Weil manchmal, da haben wir eben Pest und Cholera.

*Dieser Beitrag entstand im Kurs «Schreibkompetenz» während des Studiums zum Bachelor of Science FH in Nursing an der Careum Hochschule Gesundheit. Die Teilnehmenden wählten ein Thema, mit dem sie in der Regel in ihrem Berufsalltag in Berührung kommen. Die besten Beiträge wurden ausgewählt und für den Blog überarbeitet

Quellen:

Breivik H., e. a. (2006). Survey of chronic pain in Europe: Prevalence, impact on daily life, and treatment. European Journal of Pain 10, 287-333.

Cohen M., Q. J. (2011). Stigmatization of Patients with Chronic Pain: the Extinction of empathy. Theamerican Academy of Pain medicine, ISIS, 1637-1643.

IASP. (2021). Von International Association for the Study of Pain. http://www.iasppain.org/resources/terminology

Martorella G., L. A. (2019). Knowledge, Beliefs, and Attitudes of Emergency Nurses toward Peoplewith Chronic Pain. SAGE Open Nursing, 1-10.

Nobis, H., & Rolke, R. &.-B. (2020). Schmerz- Eine Herausforderung (Bd. 6. erweiterte undüberarbeitete Auflage). (R. &.-B. Nobis, Hrsg.) München, Deutschland: Springer. doi:10.1007/978-3-662-60401-4

Stützer, P. (2024). PDGR, Psychiatrische Dienste Kanton Graubünden, Schweiz. Von Chronische Schmerzstörung: https://www.pdgr.ch/erwachsenpsychiatrie/chronisch

Zürich, U. (April 2024). Schmerzen (akuter und chronischer Schmerz). https://www.usz.ch/krankheit/schmerzen-akuter-und-chronischer-schmerz

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  • Haben Sie auch die Erfahrung gemacht, dass Ihr Schmerz nicht ernst genommen oder nur als «psychisches» Leiden abgetan wurde?
  • Was hilft Ihnen im Umgang mit Schmerzen? Geben Sie uns Ihren Tipp!
  • Für Pflegefachpersonen: Welche Erfahrungen machen Sie mit dem Schmerzmanagement im Akutspital?

Kommentare

  • Tami Wehrmann

    30.04.2025

    Vielen Dank für den Artikel! Neu war für mich die Herkunft des Wortes und es ist interessant, dass diese Bedeutungen weiter mitschwingen. Für mich war es schwierig, eigenen Schmerz ernst zu nehmen und ich hatte Glück, Ärztinnen und Ärzte zu haben, die den Schmerz teilweise ernster genommen haben als ich. Es kann schnell passieren, dass man eigenen Schmerz normalisiert und so wird es im alltäglichen Leben auch für andere nicht mehr sichtbar, wenn man Schmerzen hat - bezugnehmend auf die oben beschriebene Annahme, dass die Schmerzen "nicht so schlimm sind", wenn man es den Personen nicht ansieht oder sie sich "normal" verhalten. Im Umgang mit Schmerzen hilft mir, mich auf Therapievorschläge vom Fachpersonal einzulassen und auszuprobieren, was hilft. Es hilft, wenn man sich dem Schmerz nicht "ausgesetzt" fühlt, sich mit Schmerzen auseinander setzt und proaktiv für sich selbst sorgen kann - auch wenn es "nur" Linderung der Schmerzen ist.

  • Daniela Lang

    30.04.2025

    Liebe Tami Wehrmann
    Vielen Dank für diese wertvollen Einblicke. Die Auseinandersetzung mit Schmerz ist vielschichtig schmerzhaft - und in aller Regel ein Prozess, der gute Begleitung benötigt! Alles Gute Ihnen!

  • Jacqueline Martin

    30.04.2025

    Danke für den spannenden Beitrag, der wiederholt zeigt, wie stark die eigene Einstellung und die (Vor-)urteile das Verhalten von Pflegefachpersonen mitprägen. Dabei wäre es wichtig, die Betroffenen zu involvieren, denn erst eine ganzheitliche Betrachtung eines Menschen mit Schmerzen macht eine gute und unvoreingenommene Behandlung möglich. Dies hat sich auch in der Studie zu Präferenzen bzgl. Schmerzbehandlung gezeigt, die ich bei Patienten und Patientinnen in einer Notfallstation eines Universitätsspitals durchgeführt hatte. Die Hälfte der erwachsenen Patient:innen (178 von Total 352 Personen) mit milden bis moderaten akuten Schmerzen wünschte keine medikamentöse Schmerzbehandlung im Spital. Je stärker die Schmerzen sind, desto mehr nimmt jedoch die Wahrscheinlichkeit zu, dass sie sich für eine Behandlung entscheiden und auch einer eher invasiveren Therapie zustimmen. Nur etwa 10% wollten vor Austritt oder Verlegung Schmerzfreiheit erlangen. Diese Ergebnisse zeigten schon damals, dass der Einbezug der Bedürfnisse der Betroffenen in die Ziele der Behandlung auch bei der Schmerzbehandlung wichtig ist. Ganz nach dem Motto: "Nothing about me, without me."
    Literaturreferenz: Martin, J.S; Bingisser, R.; Spirig, R. (2007). Schmerztherapie: Patientenpräferenzen in der Notaufnahme. Intensivmedizin und Notfallmedizin 44(6): 372–380. DOI 10.1007/s00390-007-0821-7

    • Daniela Lang

      30.04.2025

      Liebe Jacqueline Martin
      Vielen Dank für den Hinweis auf die Studie und Ihre Ergänzungen! Die Ergebnisse sprechen genau dieselbe Sprache: Schmerz ist nicht gleich Schmerz und kann folglich nicht immer in derselben Weise behandelt werden. Der oder die Betroffene muss immer Teil der Expertise sein - nur so entsteht ein Weg, im Umgang mit Schmerzen.