traurige Frau am sitzen

Der Säugling schreit permanent, die Mutter ist am Ende ihrer Kräfte. Vorwürfe, Hilflosigkeit, Wut machen sich breit. Wie kann man betroffene Personen in solchen Situationen unterstützen? Die verzweifelte Mutter: ein Tabuthema.

Ein 4 Monate alter Säugling wird stationär aufgenommen, weil er ununterbrochen schreit. Die Mutter wirkt stark belastet, müde und erschöpft. Bei einem ersten Gespräch wird das Ausmass der Belastung deutlich.

Das Baby schläft friedlich im Kinderwagen. Laut der Mutter hat es gerade getrunken, ist frisch gewickelt. Die Mutter berichtet mit gebrochener Stimme von ihren letzten Wochen. Herauszuhören ist Verzweiflung, Hilflosigkeit, aber auch Wut. Wut auf sich selbst, Wut auf die Situation, Wut auf das eigene Kind. Die schöne Vorstellung des Kennenlernens und des perfekten Familienglücks zerplatzt wie eine Seifenblase.

Keine Mutterschaft wie im Bilderbuch

Die Frage des Warums ist omnipräsent. Gedanken, eine schlechte Mutter zu sein, dem Kind nicht gerecht zu werden, versagt zu haben, erfüllen den Raum. Schlafmangel, Kraftlosigkeit und Erschöpfung kommen hinzu. Und dann kommt dieser Moment: Das Baby fängt an zu weinen. Zuerst nur schwach, dann immer intensiver.

Die Mutter nimmt es auf den Arm, schaukelt es und spricht leise auf ihr Kind ein. Doch das Schreien wird immer lauter. Ein hilfloser Blick. Tränen, welche sich ihren Weg bahnen. Die eingefallene Körperhaltung. Dann dieser Satz: «Genau das meine ich, so ist es schon seit Wochen. Ich kann mein Kind einfach nicht beruhigen, egal was ich mache. Ich kann einfach nicht mehr!»

Eine Aussage, die wir als Pflegende in unserem Berufsfeld nicht nur einmal gehört haben. Eine Aussage, die so viel mehr meint. Eine Aussage, die als Hilferuf verstanden werden muss. Eine körperliche, seelische und psychische Belastung. Ein Wechselbad der Gefühle: Verzweiflung, Überforderung, Hilflosigkeit und Wut. Wie können wir in der Pflege Unterstützung bieten?

Gründe für Schreien im Säuglingsalter

Aus Sicht der Entwicklungspädiatrie lassen sich drei Schreiarten beim Säugling unterscheiden:

  • Physiologisches Schreien (bei Hunger, nasser Windel oder emotionalem Bedürfnis)
  • Pathologisches Schreien (aufgrund akuter Erkrankung mit Schmerzen, z. B. gastroösophagealer Reflux oder eine chronische Erkrankung)
  • Unspezifisches Schreien (meist ohne ersichtliche Ursache)

Nimmt das Ausmass zu und überschreitet ein tolerierbares Mass für die Eltern, verwendet man den Begriff des exzessiven Schreiens.

Als Kriterium für exzessives Schreien gilt international die Wesselsche Dreierregel: Der Säugling schreit mehr als 3 Stunden täglich, an mindestens 3 Tagen pro Woche über mindestens 3 Wochen hinweg. Diese Definition gibt einen Anhaltspunkt, sollte aber nicht ausschliesslich im klinischen Alltag beachtet werden. Ebenso wichtig ist, den Belastungsgrad der Bezugspersonen mit einzubeziehen, um so ein ganzheitliches Bild zu erhalten. (Papoušek, M., Schieche, M., & Wurmser, H., 2004)

EEH – eine neue Chance?

Die Emotionelle Erste Hilfe (EEH) ist ein körperorientiertes Verfahren. Sie wird sowohl in der Krisen-und Entwicklungsberatung, als auch in der bindungsbasierten Psychotherapie mit Eltern und Kindern eingesetzt.

In den 90er-Jahren wurde das Verfahren vom Körperpsychotherapeuten Thomas Harms auf Grundlage der körperorientierten Psychotherapie sowie Erkenntnissen aus Gehirn-, Trauma- und Bindungsforschung entwickelt. In der EEH werden Methoden aufgezeigt, um die Beziehungs- und Kontaktfähigkeit zwischen Eltern und deren Kindern zu verbessern.

Wie wird die EEH im Alltag eingesetzt?

Die EEH beruht laut Literatur auf vier Hauptsäulen, wovon jede spezifische Ansätze zur Verbesserung der Beziehungsförderung aufzeigt.

Bindungsförderung

Hier geht es vor allem um ein präventives Vorgehen. Viele Eltern suchen die Beratung auf, weil sie im täglichen Umgang mit ihren Kindern Vieles beschäftigt. Sei es die Frage «Wie lange darf mein Baby weinen?» oder «Was kann ich tun, um nicht in einen Strudel von Emotionen mitgerissen zu werden?». Häufig werden Eltern innerhalb dieser Beratungssequenzen einfache Wege der Emotionsregulation aufgezeigt, um auch in stressigen Situationen fähig zu sein, diese zu bewältigen. So zum Beispiel Atemübungen oder Wahrnehmungstechniken. Das Ziel ist, dass Eltern neue Sicht- und Wahrnehmungsweisen ihrer Kinder kennen.

Krisenintervention

Hier geht es vor allem um Eltern und Kinder, welche bereits eine ausgeprägte Regulationsstörung in den Bereichen Schreien, Schlafen und Fütterung aufweisen. Es ist das häufigste Einsatzgebiet der EEH. In Sitzungen werden spezifische Körperinterventionen im direkten Kontakt mit dem Säugling durchgeführt. Das Ziel ist, dass Betroffene lernen, durch achtsame Selbstbeobachtung oder auch den speziellen Einsatz der Atmung die Schreiphasen ihres Kindes zu regulieren und somit auch besser begleiten zu können.

Eltern-Baby-Bindungspsychotherapie

Wenn Eltern und Kinder durch prä-, peri- und postnatale Traumatisierung in ihrer Regulations- und Beziehungsfähigkeit eingeschränkt sind, ist dieses Setting eine gute Möglichkeit. Es wird nicht nur die Fähigkeit der Eltern zum Erkennen von feinen Zwischentönen der Signale ihres Kindes weiter ausgebaut, sondern es wird Raum geschaffen, um früh erfahrene Beziehungsbrüche zu rekapitulieren und zu integrieren.

Bindungsbasierte Körperpsychotherapie

In der Krisenbegleitung werden Eltern auch von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt. Die Ausdruckskraft ihres Kindes kann dazu führen, dass bisher unterdrückte, unbewusste Erfahrungen oder Beziehungsverletzungen wieder an die Oberfläche treten. Alltägliches Verhalten des Säuglings, z. B. physiologisches Weinen, überwältigt Eltern oft und lässt sie ohnmächtig zurück. Das Ziel ist es, dass Betroffene die Hintergründe ihres irrationalen Verhaltens verstehen und durch verbesserte Emotionsregulation Handlungsstrategien erarbeiten können. (Quelle: www.emotionelle-erste-hilfe.org).

Stationäre Möglichkeiten

Einige Spitäler in der Schweiz bieten stationäre Aufenthalte an, um sich dieser Problematik anzunehmen. Ein Beispiel ist das Zürcher Stadtspital Triemli. Dessen Therapiekonzept umfasst:

  • Gewissheit und Informationen über die körperliche Gesundheit des Kindes geben
  • Entlastung bieten
  • Feinfühligkeit entwickeln gegenüber den Signalen, die das Kind zeigt, um diese korrekt beantworten zu können

Durch eine Überweisung vom Kinderarzt, von der Hebamme oder von der Mütter- und Väterberatung wird anhand eines Erstgesprächs zusammen entschieden, ob eine Hospitalisation angezeigt ist. Diese setzt sich aus der Beobachtungsphase, der Interventions- und der Evaluationsphase zusammen. (Quelle: Triemli Spital Zürich)

Babyhand in Hand eines Erwachsenen

Feinfühligkeit gegenüber den Signalen entwickeln, die das Kind zeigt. Bild: depositphotos

Aus Sicht einer Pflegefachperson

Das Wichtigste aus meiner Sicht ist, den Eltern das Gefühl zu vermitteln, dass sie ernst genommen und mit ihren Ängsten und ihrer Hilflosigkeit nicht alleine gelassen werden. Oft bekommen sie nett gemeinte Ratschläge von Angehörigen oder Fachpersonen mit der beschwichtigenden Aussage: «Das geht vorbei.» Das verstärkt bei Eltern das Gefühl des Versagens und des Nicht-Verstandenwerdens.

Überforderte Eltern oder überforderte Mütter sind noch heute ein Tabuthema. Viele Familien betrachten es als Niederlage, Hilfe anzunehmen. Doch Hilfe ist wichtig. Es ist nötig, auch solch schwierigeThemen anzusprechen und nicht zu verharmlosen. Denn in diesen Situationen spielen die Gefühle Achterbahn. Ein Teufelskreis beginnt, der manchmal ohne Unterstützung nicht zu überwinden ist. Auch innerhalb der Familie oder des Freundes- und Bekanntenkreises werden diese Themen oft nicht angesprochen. Sei es aus Angst, als schlechte Mutter abgestempelt zu werden, sei es aus Angst, versagt zu haben oder aus Angst, alleine mit diesem Problem zu sein.

Doch dem ist nicht so. Niemand ist allein. Bestehende Angebote müssen weiter ausgebaut und breit kommuniziert werden. Doch noch immer gibt es gesellschaftliche Hürden. Wenn solche Themen nicht offen und ohne Angst, verurteilt zu werden, kommuniziert werden können, wie ist es dann möglich, dem entgegenzuwirken? Auch die Gesellschaft muss dieses Tabu brechen und eine grössere Akzeptanz zeigen. Nur zusammen lassen sich Berge versetzen.

*Dieser Beitrag entstand im Kurs «Schreibkompetenz» während des Studiums zum Bachelor of Science FH in Nursing an der Careum Hochschule Gesundheit. Die Teilnehmenden wählten ein Thema, mit dem sie in der Regel in ihrem Berufsalltag in Berührung kommen. Die besten Beiträge wurden ausgewählt und für den Blog überarbeitet.

Diskutieren Sie mit!

  • Haben Sie selber als Betroffene ähnliche Erfahrungen gemacht?
  • Was hat Ihnen geholfen?
  • Wo kann man ansetzen, dieses gesellschaftliche Tabu zu brechen?

Literatur und hilfreiche Links

https://www.schreibabyhilfe.ch/verein-schreibabyhilfe

https://www.stadtzuerich.ch/triemli/de/index/kliniken_institute/kinderklinik/abteilungen/spezialsprechstunde n/schreibaby-sprechstunde.html

https://www.emotionelle-erste-hilfe.org

Papoušek, M., Schieche, M., & Wurmser, H. (2004). Regulationsstörungen der frühen Kindheit. Frühe Risiken und Hilfen im Entwicklungskontext der Eltern-Kind-Beziehungen. Bern: Huber. 

    Kommentare

    • Fabian Berger

      12.05.2022

      Vielen Dank für diesen sehr tollen Blog. Ich selber bin mehr oder weniger frischer Vater und habe zwei Töchter im Alter von 15 Monaten und drei Jahren. Der Übergang in die Elternschaft erlebte ich dabei als sehr herausfordernder Prozess. In Schaffhausen haben wir das Familienzentrum, mit integrierter Mütter- und Väterberatung. Ein ziemlich cooles Projekt, welches vorbildlich die Integration von "Gesundheit & Soziales" meistert, indem es die Möglichkeit eines konsumfreien Aufenthaltes mit einem niederschwelligen Zugang zu Beratung ermöglicht. Gerade wenn es schlechtes Wetter ist, und ich alleine mit den Kindern unterwegs bin, gehen wir dort hin und die Kinder sind dann sehr motiviert. Hier könnte ich es mir gut vorstellen, dass eine Kooperation zwischen Hebammen, Pflege und Sozialer Arbeit ein erster Schritt sein kann, um das Tabu zu brechen - und gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsprojekte das Bewusstsein für das Thema sensibilisieren und das Tabu brechen; alleine das Gefühl, nicht alleine zu sein und sich gemeinsam mit anderen Eltern austauschen zu können, hat mir sehr geholfen.

      • Natascha Lau

        14.05.2022

        Sehr geehrter Herr Berger   Vielen Dank für Ihren spannenden Beitrag. Die Sicht der Väter und deren Erfahrungen sind natürlich auch äusserst wertvoll. Ein spannender Ansatz, welcher Sie hier erläutern. Ich erhoffe mir, dass zukünftig durch Forschungs- und Entwicklungsprojekte dieser Aspekt weiter beleuchtet werden kann und die Familien so noch besser unterstützt werden können.

    • Michael Schmieder

      12.05.2022

      Als Grossvater erlebe ich derzeit bei meinem Enkelkind tatsächlich solch ein Schreikind. Hatte auch als Vater vor 37 Jahren solch ein Kind. Ich kann nicht nachvollziehen, warum das Thema Schreien in dem Beitrag als Tabu definiert wird. Wenn etwas als Tabu definiert ist, rechtfertigt das meist irgendwelche therapeutischen Interventionen. Vielleicht haben wir deshalb so viele Tabus. Und die Frage sei auch gestellt, ab wann ist etwas kein Tabu mehr und wer entscheidet das ? Heute wird das Schreien doch überall thematisiert, die Kinderärztinnen kennen das und sind auf das Phänomen vorbereitet und nehmen die jungen Eltern sehr ernst, wenn es um Überlastung wegen dauerndem Schreien geht. Aber das Kind schreit dennoch. Alles abgeklärt und es schreit dennoch. Da ist selbstverständlich, dass die Mutter und Vater an den Rand ihrer Kräfte kommen und da gilt es, diese Zeit von aussen überbrücken zu helfen, von Grosseltern, Freunden etc. Da braucht es praktische Hilfe und weniger den therapeutischen Ansatz. Es braucht Entlastung. Warum man mit dem Satz: "Das geht vorbei" die Eltern nicht ernst nehmen und in ihnen das Gefühl des Versagens auslösen würde, erschliesst sich mir in keiner Weise.

      • Natascha Lau

        14.05.2022

        Sehr geehrter Herr Schmieder

        Herzlichen Dank für Ihren Beitrag, sowie die Anregungen. Das Tabuthema sollte sich darauf beziehen, dass Eltern, solcher Kinder verständlicherweise an ihre Grenzen kommen können, sich dadurch aber nicht alleine gelassen fühlen sollen oder Angst verspüren, diese Aspekte nicht offen kommunizieren zu können. In Gesprächen mit Betroffenen wurde immer wieder deutlich, dass es für sie auch wichtig ist, wie sie ihr Kind unterstützen können und inwiefern auch die Beziehung zum Kind positiv beeinflusst werden kann. In Gesprächen mit Müttern wurde immer wieder geäussert, dass der Satz „das geht vorbei“ in ihnen ein Gefühl des nicht ernst genommen werden auslöst. Vielfach interpretieren die Betroffenen, die Aussage so, als dass man die Situation als nicht so schlimm einstuft und diese nur von kurzer Dauer ist. Solche Empfindungen sind natürlich von Mensch zu Mensch unterschiedlich, beruhen hier aber auf den Erfahrungen im pflegerischen Alltag. Die von Ihnen angesprochene Entlastung ist ein wichtiger Aspekt. Sei es nun innerhalb des Familiensystems oder durch externe Unterstützung. Aber auch weiterführende Angebote können einen möglichen Beitrag leisten und den Familien weitere Unterstützung bieten.