Infolge einer Demenzerkrankung kann jemand verwirrt sein

Demenzpflege – warum Nichteingreifen manchmal wichtiger ist

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Die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz ist anspruchsvoll und herausfordernd – für die Betroffenen, für die Angehörigen, für die Fachpersonen. Worauf es dabei ankommt und wie wichtig reflektiertes Handeln ist, zeigt der Demenzexperte und Dozent Christian Müller-Hergl.

Krankheiten verändern Menschen körperlich, psychisch und sozial. Dies zeigt sich besonders bei einer Demenzerkrankung. Was hier beobachtet wird, ist die mangelnde Einsicht der Betroffenen, dass sie erkrankt sind. Das macht es schwierig, Hilfe von anderen anzunehmen.

Aber nicht nur das kann zu Konflikten führen. Menschen mit Demenz wehren sich beispielsweise gegen Unterstützung bei der Körperpflege. Dabei brechen frühere Ängste oder Traumata wieder auf und können so ein Abwehrverhalten erzeugen. Frühere Erlebnisse, in denen sich Demenzerkrankte hilflos und ohnmächtig gefühlt haben, werden wiederbelebt und versetzen die Betroffenen in grosse Not. Warum ist das so?

Zwischen Autonomie und Abhängigkeit 

Ein Mensch mit Demenz erlebt sich als eine erwachsene Person, die Hilfe nicht nötig hat. Doch, der Betroffene kommt mit seiner Situation nicht mehr zurecht. An Demenz Erkrankte verzweifeln und verstehen nicht, warum sie nicht zurechtkommen. Sie werden teils ahnungslos über sich selbst, da sie die wahrgenommenen Veränderungen nicht in ihr Selbstbild einbauen können.

Dieser sogenannte Autonomie-Abhängigkeitskonflikt (Arbeitskreis OPD, 2009) kann nicht reflektiert oder mit sich selbst ausgehandelt werden. Er wird in die Beziehung übertragen – insbesondere in die pflegerische. Anstatt sich über sich selbst zu ärgern, schimpfen die Betroffenen mit der Pflegeperson. Auf Angstgefühle wird dann häufig mit den klassischen Spontanreaktionen wie Flucht (aus der Pflege fliehen), Angriff (paranoide Übertragung: Kratzen, Schlagen, Beissen) oder Erstarrung (eine Art traumatische Reaktion) reagiert.

Solche herausfordernden Verhaltensweisen überfordern Pflegende schnell. Oft führen sie zu Stress. Man möchte helfen und wird dafür bestraft. Die sich wechselseitig beeinflussenden Affekte (Wut, Ohnmacht, Überforderung) können Widerwillen, Rückzug oder den vorschnellen Einsatz von Antipsychotika zur Folge haben. Sie können auch der Grund für körperliche oder psychische Gewalt sein.

Dieses Verhalten ist besonders häufig, wenn man schlecht vorbereitet in eine Situation gerät, in der man helfen soll. Und so beeinflusst oft nicht die Verfassung des Menschen mit Demenz, ob eine Betreuung zu Hause langfristig möglich ist, sondern was Angehörige und Pflegende erleben. Wird eine Grenze überschritten, die von Helfenden als untragbar empfunden wird, bleibt meist nur die Pflege in einer entsprechenden Institution.

Demenzpflege zuhause

Eine Frau pflegt ihren dementen Partner. Bild: Depositphotos

Erfahrung und Reflexion in der Begegnung mit Betroffenen

In der Beziehungspflege versuchen Pflegende, sich als Verbündete des Menschen mit Demenz zu verstehen (DNQP, 2019). Eine solche Haltung erfordert viel Erfahrung. Aber auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst und den eigenen Grenzen. Pflegende greifen nicht nur ein. Sie lassen auch manches zu und lösen sich von der Vorstellung, die Person «in den Griff» zu bekommen: Oft ist das Nichteingreifen wichtiger als das Eingreifen.

Ziel ist, weniger das Verhalten zu kontrollieren, als das Wohlbefinden aller Beteiligten zu bewahren. Auch die Angehörigen und Pflegenden müssen dabei das Gefühl haben, sie können Umwege gehen oder Spielräume schaffen. Aber sie müssen auch bereit sein, auf eine gewisse Macht zu verzichten, sich immer wieder neu einzufühlen und die Perspektive zu wechseln. Die Belastung der Pflegenden wendet sich zum Positiven, wenn man die Person und ihre Erkrankung versteht. Aber auch begreift, wie man aus dem «Ärgertunnel» aussteigt und wenig hilfreiche Äusserungen («der macht das bewusst, um mich zu ärgern») überwindet.

Neben der eigenen Auseinandersetzung sind auch Veränderungen in der Umgebung wichtig: Es gilt, Lärm zu vermeiden, eine übersichtliche, häusliche Umgebung zu schaffen, gewisse Auslöser von Konflikten zu vermeiden, Tagesstrukturen zu erarbeiten, für adäquate Stimulation zu sorgen und gesundheitliche Probleme (z. B. Schmerzen) zu erkennen. Hier ist Prävention alles. Je mehr die Pflegenden und Angehörigen ein Gefühl dafür entwickeln, die Situation – nicht die Person – zu kontrollieren, desto höher ist die Motivation, zu helfen (Richter, 2012).

Pflege als Zusammenspiel aller Beteiligten 

Das Bedürfnis der Menschen mit Demenz nach Selbstbestimmung und Kontrolle stellt dabei weniger ein Problem, denn möglicherweise eine Ressource dar. Auf diese Weise versuchen Betroffene, die Hilfe durch den «Flaschenhals der Autonomie» hindurch zuzulassen. Nur wenn es genauso läuft, wie der Mensch mit Demenz es gerade erträgt und zulassen kann, dann – und nur dann – haben Pflegende eine Chance, sich als Hilfs- oder Ersatz-Ich anzubieten (Lindner, 2018).

Je mehr sich Pflegende auf die Eigenarten der Betroffenen einlassen, desto eher kommt es zur Kooperation aller Beteiligten. Pflege ist immer ein Zusammenspiel von Betroffenen und Helfenden. Die Pflege von Menschen mit Demenz stellt ein anspruchsvolles und herausforderndes Feld innerhalb der Pflege dar, in dem psychiatrische, somatische und palliative Aspekte zusammenlaufen.

Angehörige mit geringem Vorwissen sind dringend darauf angewiesen, hierbei von fundiert ausgebildeten Pflegefachpersonen unterstützt und begleitet zu werden. Und zwar in Situationen, wenn sie die betroffene Person oder die Situation beschreiben, Auslöser analysieren, Verhalten beobachten und Konsequenzen ziehen. Sie müssen auch fähig sein, sich den Betroffenen anzupassen, in gewissen Momenten zu deeskalieren und schliesslich die kritischen Vorkommnisse zu verarbeiten. Geschieht dies nicht, verfestigen sich herausfordernde Verhaltensweisen und ungünstige Reaktionen darauf. Dies kann dann Resignation und Hilflosigkeit zur Folge haben.

Literatur

Arbeitskreis OPD (Hrsg.) (2009). Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD-2. Das Manual für Diagnostik und Therapieplanung. 2., überarb. Auflage, Bern Huber, 417–431.

Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege DNQP (2019). Expertenstandard Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz. Schriftenreihe DNQP, Osnabrück. PDF

Lindner, R. (2018). Sturzangst: Eine psychodynamische Perspektive. Psychotherapie im Alter, 15(2), 163–175.

Richter, D. (2012). Theorien und Modelle für Aggression und Gewalt gegen Mitarbeiter im Gesundheitswesen. In: G. Walter, J. Nau, N. Oud, (Hrsg.). Aggression und Aggressionsmanagement, Bern: Huber, 62–88.

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  • Wie erleben Sie den Konflikt zwischen Autonomie und Abhängigkeit von Menschen mit Demenz in Ihrer Praxis?
  • Wie kann es gelingen, die Situation und nicht die Person mit Demenz zu kontrollieren?
  • Wie gelingt es Ihnen, nicht in den «Ärgertunnel» zu geraten? Was hilft Ihnen dabei?

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